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Ein geschenkter Tag

Ein geschenkter Tag

Titel: Ein geschenkter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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Keller, die Nebengebäude, die Sattlerei, das Jagdschlösschen und den ehemaligen Wehrgang.
    Simon staunte über den Einfallsreichtum der Architekten und anderer Experten für Befestigungsanlagen. Lola sammelte Kräuter.
     
    Ich saß auf einer steinernen Bank und beobachtete die drei.
    Meine Brüder stützten sich auf die Brüstung oberhalb des Wassergrabens. Simon sah so aus, als würde er seine letzten Modellfahrzeuge vermissen ... Ach, wenn nur Sessil Dabbelju hier wäre. Vincent schien seine Gedanken zu lesen, denn er sagte:
    »Vergiss deine Boote. In dem Graben tummeln sich riesige Karpfen. Die würden sie in Null Komma nichts verschlingen.«
    »Echt?«
    Verträumte Stille, Streicheln des Mooses auf dem Geländer ...
    »Im Gegenteil«, flüsterte unser Kapitän Ahab, »das wäre erst recht lustig. Ich sollte mit Léo wiederkommen. Wenn große Fische diese Spielsachen verschlingen, die er selbst nie anfassen durfte, etwas Besseres könnte uns beiden gar nicht passieren ...«
    Was danach gesagt wurde, habe ich nicht gehört, aber ich sah, wie sie sich abklatschten, als hätten sie einen guten Deal gemacht.
     
    Und meine geliebte Lola auf Knien, wie sie inmitten von Margeriten und Duftwicken malte. Der Rücken meiner Schwester, ihr großer Hut, die weißen

    Schmetterlinge, die sich darauf wagten, die Haare, in die sie einen ihrer Pinsel gesteckt hatte, damit sie nicht nach vorn fielen, ihr Nacken, ihre Arme, die wegen einer noch frischen Scheidung ganz schmal geworden waren, und der untere Teil ihres T-Shirts, an dem sie zog, um die Farben abzutupfen. Eine Palette aus weißer Baumwolle, die sie peu à peu mit Aquarellfarben versah ...
    Noch nie hatte ich es so sehr bedauert, meinen Fotoapparat nicht dabeizuhaben.
     
    Man kann es auf die Müdigkeit schieben, aber ich ertappte mich tatsächlich dabei, wie mir ganz warm ums Herz wurde. Eine große Welle der Zärtlichkeit für die drei und der plötzliche Gedanke, dass wir im Begriff waren, aus unseren Kinderschuhen herauszuwachsen ...
    Seit fast dreißig Jahren gehörten sie zu mir ... Was wäre ich ohne sie? Und wann würde uns das Leben trennen?
    Denn so ist es doch. Die Zeit trennt diejenigen, die sich lieben, und nichts ist von Dauer.
     
    Was wir gerade erlebten, und darüber waren wir uns alle vier im klaren, war ein kleiner Nachschlag. Ein Aufschub, ein geschenkter Tag, ein gnädiger Moment. Ein paar Stunden, die wir den anderen abtrotzten ...
    Wie lange noch hätten wir die Energie, uns aus dem Alltag zu stehlen und zusammen auszubüxen? Wie oft würden wir dem Leben noch eine lange Nase machen? Wie viele freie Tage würde es uns noch zugestehen? Wie viele kleine Fluchten? Wann würden wir uns gegenseitig verlieren, und auf welche Weise würden wir auseinandergehen?
     
    Wie viele Jahre noch, bis wir alt wären?
     
    Und ich weiß, es war uns allen bewusst. Ich kenne uns gut.
    Aus gegenseitiger Rücksichtnahme sprachen wir nicht darüber, aber auf dieser Etappe unseres Lebenswegs wussten wir es genau.
    Dass wir am Fuße dieser Schlossruine das Ende einer Epoche erlebten und dass die Zeit der Mauser näher rückte. Dass wir diese Vertrautheit, diese Zuneigung, diese etwas rauhe Liebe ablegen mussten. Uns davon lösen mussten. Die Hände loslassen und endlich erwachsen werden.
    Die Daltons mussten schließlich auch ihre eigenen Wege gehen, jeder für sich, dem Sonnenuntergang entgegen ...

    Blöd, wie ich bin, hatte ich es fast geschafft, mich selbst zu Tränen zu rühren, als ich am Ende des Sträßchens etwas entdeckte. Was konnte das sein?
    Ich kniff die Augen zusammen und richtete mich auf.
    Ein Tier, ein kleines Tier schleppte sich mühsam in meine Richtung. War es verletzt? Was war das bloß? Ein Fuchs?
    Ein Fuchs mit einer Urinprobe, den Carine losgeschickt hatte? Ein Kaninchen?
     
    Es war ein Hund. Es war unglaublich.
    Es war der Hund, den ich gestern vom Auto aus gesehen hatte, der in der Heckscheibe verschwunden war ...
    Es war der Hund, dessen Blick ich einige hundert Kilometer von hier gekreuzt hatte.
    Nein, er konnte es nicht sein. Oder doch ...
    Hm, bald könnte ich in »Herrchen gesucht« auftreten!
     

    Ich ging in die Hocke und streckte ihm die Hand hin. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, mit dem Schwanz zu wedeln. Er machte noch drei Schritte und brach vor meinen Füßen zusammen.
     
    Sekundenlang habe ich mich nicht bewegt. Ich hatte mächtig Bammel.
    Ein Hund war gekommen, um zu meinen Füßen zu sterben.
     
    Von wegen, nach einer

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