Ein Gesicht so schön und kalt
Mutter hier, um mit dir zu reden?«
»Ja.«
»Unser Anführer hat sie gesehen und erkannt. Er dampfte
gerade zu einer Besprechung mit dem Gouverneur ab. Er will
wissen, was sie zum Teufel hier bei dir zu suchen hatte.«
55
Als Geoff Dorso am Donnerstag abend nach Hause kam, ging
er ans Fenster seiner Eigentumswohnung, stand da und starrte
auf die Silhouette von New York. Den ganzen Tag über schon
quälte ihn die Erinnerung daran, wie er Kerry sarkastisch »Euer
Ehren« genannt hatte, aber er hatte den Gedanken daran rigoros
verdrängt. Jetzt, da er allein und sein Arbeitstag vorbei war,
mußte er sich der Sache stellen.
Wie verdammt dreist ich doch war, dachte er. Kerry war so
anständig, mich anzurufen und um das Prozeßprotokoll zu
bitten. Sie war so fair, mit Dr. Smith und Dolly Bowles zu
reden. Sie machte extra die Fahrt nach Trenton, um Skip
kennenzulernen. Wieso sollte sie sich keine Sorgen machen, daß
sie den Richterposten verliert, besonders wenn sie Skip ehrlich
nicht für unschuldig hält?
Ich hatte kein Recht, so mit ihr zu reden, und ich bin es ihr
schuldig, daß ich sie um Verzeihung bitte, dachte er, obwohl ich
es ihr nicht verübeln könnte, wenn sie einfach aufhängt. Gib’s
doch zu, hielt er sich vor. Du warst überzeugt davon, daß sie
bestimmt um so fester an Skips Unschuld glaubt, je mehr sie
sich mit dem Sweetheart-Mordfall auseinandersetzt. Aber wieso
konnte er sich da eigentlich so sicher sein? Sie hat doch
eindeutig das Recht, sich der Meinung der Geschworenen und
der Berufungsgerichte anzuschließen, und es war eine miese
Tour, anzudeuten, daß sie bloß an sich selber denkt.
Er schob die Hände in die Hosentaschen. Heute war der 2.
November. In drei Wochen war Thanksgiving fällig. Wieder
einmal ein Erntedankfest im Gefängnis für Skip. Und zur selben
Zeit würde Mrs. Reardon sich einer weiteren Angioplastie im
Krankenhaus unterziehen. Zehn Jahre des Wartens auf ein
Wunder hatten ihren Tribut bei ihr gefordert.
Eines aber, rief er sich ins Gedächtnis, war doch bei all dem
herausgekommen.
Kerry mochte nicht an Skips Unschuld
glauben, aber sie hatte zwei neue Ermittlungswege aufgetan, die
Geoff nun verfolgen würde. Dolly Bowles’ Geschichte von
»Papas Auto«, einem schwarzen viertürigen Mercedes, war die
eine Spur, und die andere war Dr. Smiths bizarres Bedürfnis,
Suzannes Gesicht bei anderen Frauen zu duplizieren.
Wenigstens waren das beides neue Aspekte bei einer
Geschichte, die mittlerweile nur allzu vertraut war.
Das Läuten des Telefons unterbrach ihn bei seinem Grübeln.
Er war versucht, nicht an den Apparat zu gehen, aber Jahre der
scherzenden Ermahnungen seiner Mutter à la: »Wie kannst du
nur nicht ans Telefon gehen, Geoff? Könnte doch genausogut
um einen Topf voll Gold gehen« ließen ihn nach dem Hörer
greifen.
Es war Deidre Reardon, die anrief, um ihm von ihrem Besuch
bei Skip und dann bei Kerry McGrath zu berichten.
»Deidre, das haben Sie doch nicht zu Kerry gesagt?« fragte
Geoff. Er bemühte sich nicht, seinen Ärger über das, was sie
getan hatte, zu verbergen.
»Doch, sehr wohl. Und es tut mir auch nicht leid«, sagte Mrs.
Reardon. »Geoff, das einzige, was Skip am Leben hält, ist die
Hoffnung. Diese Frau hat mit einem Schlag diese Hoffnung
ausgelöscht.«
»Deidre, dank Kerry habe ich ein paar neue Spuren, denen ich
nachgehen werde. Sie könnten sehr wichtig sein.«
»Sie ist hingegangen, um meinen Sohn zu sehen, hat ihm ins
Gesicht geschaut, hat ihm Fragen gestellt und dann entschieden,
daß er ein Killer ist«, sagte Mrs. Reardon. »Tut mir leid, Geoff,
vielleicht werd’ ich einfach alt und müde und verbittert. Ich
bereue kein einziges Wort von dem, was ich zu Kerry McGrath
gesagt hab.« Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Geoff holte tief Luft und wählte Kerrys Nummer.
Als Kerry heimkam und die Babysitterin verabschiedet hatte,
schaute Robin sie prüfend an. »Du siehst ganz erledigt aus,
Mom.«
»Ich bin auch erledigt, Spätzchen.«
»Harter Tag?«
»Das kannst du laut sagen.«
»Setzt Mr. Green dich unter Druck?«
»Das steht noch bevor. Aber laß uns nicht davon reden. Ich
glaube, das vergesse ich jetzt lieber. Wie ging’s dir heute?«
»Gut. Ich glaube, Andrew mag mich.«
»Wirklich!« Kerry wußte, daß Andrew als der coolste Junge
in der fünften Klasse galt. »Woher weißt du das?«
»Er hat zu Tommy gesagt, daß ich sogar mit meinem
vermasselten Gesicht besser als die
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