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Ein glücklicher Tag im Jahr 2381

Ein glücklicher Tag im Jahr 2381

Titel: Ein glücklicher Tag im Jahr 2381 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Arbeit, die in den industriellen Ebenen von Menschen ausgeführt wird, ebenso gut von Maschinen ausgeführt werden könnte. Shawke hat ihm daraufhin mit einem wohlwollenden Lächeln geantwortet: »Aber was würden all diese armen Leute mit ihrem Leben anfangen, wenn sie ihre Arbeit nicht hätten?« fragte er. »Glaubst du, daß wir sie zu Poeten umschulen könnten, Siegmund? Oder zu Professoren der urbanen Geschichte? Wir schaffen absichtlich Arbeit für sie, verstehst du?« Und Siegmund war überrascht, mußte sich seine eigene Naivität eingestehen. Einer der seltenen Fälle, in denen er die Methodik des Regierens nicht sofort durchschaut hat. Er erinnert sich noch immer mit Unbehagen an diese Unterredung. In einer idealen menschlichen Gemeinschaft, so glaubt er, sollte jeder eine bedeutsame Arbeit zu verrichten haben. Aber gewisse praktische Erwägungen in bezug auf menschliche Grenzen stellen sich dazwischen. Und dennoch. Und dennoch. Wie es in Warschau aussieht, das spricht gegen die Theorie.
    Öffne eine Tür. Vielleicht 6021. 6023. 6025. Seltsam, diese Apartments mit vierstelligen Nummern. 6027, 6029. Siegmund legt die Hand auf den Türknopf. Zögert. Plötzliche Scheu überkommt ihn. Er stellt sich vor, daß ihn da drin ein muskelbepackter, haariger, knurrender, abgestumpfter Arbeiterehemann erwartet und eine formlose, abgenützte Arbeiterfrau. Und er muß sich in ihre Intimitäten einmischen. Das abweisende Starren, wenn sie seine Kleidung sehen, die ihn als einen Besucher aus den oberen Stockwerken ausweist. Was will denn dieser Angeber aus Schanghai hier? Hat er denn keinen Anstand im Leib? Und so weiter. Und so weiter. Siegmund läuft fast davon. Aber dann bekommt er sich wieder in den Griff. Sie können ihn nicht zurückweisen. Er öffnet die Tür.
    Der Raum ist dunkel. Es dauert eine Zeitlang, bis sich seine Augen anpassen; im Schein der schwach glimmenden Nachtlampe erkennt er ein Paar auf der Schlafplattform und fünf oder sechs Kleine in den Kinderbetten. Seine Vorstellung von den Bewohnern des Raums erweist sich als ziemlich unzutreffend. Sie könnten ebenso gut ein jungverheiratetes Paar in Schanghai, Chikago oder Edinburgh sein. Die nackten Schlafenden sind nur ein paar Jahre älter als Siegmund – er vielleicht neunzehn, sie etwa achtzehn. Der Mann ist hager, schmale Schultern, nicht besonders muskulös. Die Frau wirkt gepflegt, annehmbarer Körper, weiches blondes Haar. Siegmund berührt leicht ihre Schulter. Blaue Augen tun sich blinzelnd auf. Das Erschrecken geht in Verstehen über: oh, ein Nachtwandler. Und das Verstehen weicht der Verwirrung: Der Nachtwandler trägt Kleider, wie sie im oberen Teil des Gebäudes üblich sind. Die Etikette verlangt eine Vorstellung. »Siegmund Klüver«, sagt er. »Schanghai.«
    Das Mädchen fährt sich hastig mit der Zunge über die Lippen. »Schanghai? Wirklich?« Der Mann erwacht. Blinzelt überrascht. »Schanghai?« sagt er. »Weshalb dann hier unten, hm?« Nicht feindselig, eher verwundert. Siegmund zuckt die Achseln, als wolle er sagen, einfach eine Laune, nichts weiter. Der Ehemann entfernt sich von der Plattform. Siegmund versichert ihm, daß er nicht zu gehen braucht, daß er seinetwegen ruhig hier bleiben kann, aber das ist offenbar nicht üblich in Warschau: Die Ankunft eines Nachtwandlers ist für den Ehemann das Signal, sich zu entfernen. Ein lockerer Baumwollumhang bedeckt schon seinen bleichen, fast haarlosen Körper.
    Ein nervöses Lächeln: bis später, Liebstes. Und draußen. Siegmund ist allein mit der Frau. »Ich bin noch nie jemandem aus Schanghai begegnet«, sagt sie.
    »Du hast mir deinen Namen noch gar nicht gesagt.«
    »Ellen.«
    Er legt sich neben ihr nieder. Streicht über ihre glatte Haut. Rheas Worte hallen in seinem Innern wider. Bemühe dich, menschlicher zu werden. Sieh dir an, wie einfachere Leute leben. »Was macht dein Mann eigentlich, Ellen?«
    »Er führt jetzt einen Gabelstapler. Früher hat er Kabel verlegt, aber er hat sich dabei verletzt.«
    »Er muß wohl hart arbeiten?«
    »Der Sektionschef sagt, daß er einer seiner besten Männer ist. Und ich finde auch, daß er gut ist.« Ein leises Kichern. »Welche Ebenen nimmt Schanghai eigentlich ein? Das muß um 700 herum sein, nicht?«
    »761 bis 800.« Er liebkost ihre Hüften. Ihr Körper bebt – Furcht oder Verlangen? Zögernd nähert sich ihre Hand seiner Kleidung. Vielleicht will sie es nur schnell hinter sich bringen, damit sie ihn wieder los hat. Die Angst vor dem

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