Ein Gott der keiner war (German Edition)

mehr der Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in ihren eigenen Ländern als der Kenntnis der Verhältnisse innerhalb Rußlands. Die meisten Menschen wußten nicht genau, was unter dem bolschewistischen Regime geschehen war oder noch geschah, aber jedermann sprach mit Eifer darüber. Meistens stützten sich die Verfechter am stärksten auf Versprechungen und „objektive" Schwierigkeiten, indessen die Verleumder auf die mangelnde Leistung hinwiesen. Die nicht endende leidenschaftlich geführte Diskussion erregte in mir den Wunsch, mich an Ort und Stelle selber zu unterrichten.
    Im September 1922 fuhr ich von Berlin nach Moskau, ohne ein einziges Wort Russisch zu können und ohne eigentlich etwas von dem Sowjetsystem zu verstehen, doch voller Sympathie für seine Bestrebungen; ich wußte aber, daß die Verhältnisse schrecklich waren. Ich reiste nicht nach Utopia oder Mekka.
    Revolten der Landbevölkerung, Hungersnot und eine in den letzten Zügen liegende Produktion hatten die Sowjetregierung im Frühjahr 1921 dazu bestimmt, die neue ökonomische Politik – das NEP–System – einzuführen, womit der inländische Kapitalismus und die Konzessionen ausländischer Kapitalisten gesetzlich geschützt wurden. Das schwache bolschewistische Regime wurde in die Vergangenheit zurückgezerrt. Lenin gab den Rückzug zu; er beschönigte Rückschläge niemals. Schäbige Straßenhändler, die mit Unterwäsche, Socken, Gummiabsätzen, Korsetts, Silber und sämtlichen anderen nur denkbaren Altertümern handelten, tauchten jählings in dem Straßenbild von Moskau, Leningrad, Kiew und anderen Städten auf. Auf dem Lande wimmelte es von hoffnungsfrohen, schnell reich werden wollen – den NEP-Leuten. Die Regierung betrieb riesige Spielkasinos, Luxusrestaurants und Kabaretts, die mit den Nahrungsmitteln überfüllt waren, die für die Durchschnittsbevölkerung unerreichbar waren.
    Nichts von alledem gab mir eine Vorstellung vom Kommunismus oder einer neuen Lebensart. Offensichtlich war der kapitalistische Instinkt sehr mächtig und kam bei der ersten Berührung mit dem NEP-System wieder zum Leben. Ich fragte mich, ob die Revolution sich allmählich totliefe. Die Kommunisten sagten nein. Die materiellen Dinge legten wenig Zeugnis für den Bolschewismus ab, doch die geistige Haltung der Kommunisten sprach dafür.
    Die kommunistische Partei war die bemerkenswerteste Einrichtung Sowjetrußlands. Sie erinnerte durch die Anforderungen an Härte und Hingabe, die sie an ihre Mitglieder stellte, an einen mönchischen Orden. Die traditionelle Art ihres automatischen Gehorsams, ihrer Geheimhaltung und unbedingten Disziplin machte sie einer Militärkaste ähnlich. Sie diente als Kraftstation, Wachhund und belebendes Element für das neue Regime. Sie schuf die politische Linie und war die alleinige Quelle politischer Kraft, und doch übte sie keine mittelbare Gewalt aus. Dies war die Funktion der Regierungsbürokratie. Die Partei unterwies, die Regierung spornte sie an und beaufsichtigte sie. Diese Teilung der Aufgaben verfolgte den Zweck, die korrumpierende Wirkung einer hohen Stellung und der Macht von den einzelnen Kommunisten fernzuhalten. Die meisten Regierungsbeamten waren Parteimitglieder, aber Tausende von führenden Kommunisten (z. B. Stalin, Sinowjew, Budiarin) hatten keine Regierungsämter. Die Kommunisten redeten einander als Genossen an, und die Mehrzahl erhielt ein einheitliches, niedriges Gehalt, das eine spartanische Lebensweise und Puritanismus förderte. Die Pflichten, die ein Kommunist hatte, überstiegen zahlenmäßig seine Vorrechte. Die Partei erwartete von ihm, daß er mit seinem antireligiösen Eifer, seiner ideologischen Treue, seinem moralischen Verhalten und seiner politischen Hingabe vorbildlich sei. Entgleisungen wurden streng bestraft.
    Rußland bebte vor dynamischer Energie. Es schien, als seien die Städte erfüllt von Menschen, die frisch aus den Wäldern und von den Weizenfeldern gekommen seien. Die jungen Menschen beherrschten das Bild. Lenin war im Jahre 1922 zweiundfünfzig, Trotzki dreiundvierzig, Stalin dreiundvierzig, Sinowjew neununddreißig, Kamenjew neununddreißig, Bucharin vierunddreißig und Radek siebenunddreißig Jahre alt.
    Die Revolution war ein Schüttelverfahren, bei dem die früheren herrschenden Klassen zu Staub zermahlen wurden und das neuen lebensstarken Kräften gestattete, an die Oberfläche zu kommen. Aus Dankbarkeit für diese Möglichkeit waren sie bereit, Disziplin, harte Arbeit und