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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Vorkämpfer der Sowjetunion machten.
    Die große Linie, die einen Menschen an eine Sache bindet, ist zwingender als alles andere, selbst als die abstoßendsten damit verbundenen Tatsachen. Genau so wie eine religiöse Überzeugung einem logischen Argument gegenüber unzugänglich ist und ja auch tatsächlich nicht aus logischen Vorgängen resultiert, genau so wie eine nationalistische Hingabe oder eine persönliche Zuneigung einem Berg von Gegenbeweisen trotzt, so erreichte meine prosowjetische Haltung bald eine völlige Unabhängigkeit vom Tagesgeschehen. Entwicklungen, die für Rußland schädlich zu sein schienen, wurden als vorübergehende Erscheinungen angesehen, die in unredlicher Absicht mißdeutet seien, oder sie wurden von bedeutenderen und ausgleichenden Entwicklungen aufgehoben. Ich studierte sorgfältig die Verhältnisse und berichtete darüber sorgfältig; manchmal waren sie kein Plus für den Bolschewismus. Doch das schwächte weder meine Zuneigung zum Sowjetsystem noch meinen Glauben an seine leuchtende Zukunft.
    Die New Yorker Zeitung „Nation" vom 4. März 1935 veröffentlichte einen Artikel von mir über „Politische Gefangene unter dem Bolschewismus", in dem ich mich auf zwei bekannte internationale Anarchisten bezog, auf Emma Goldman und Alexander Berkman, die im Jahre 1920/21 Sowjetrußland aufsuchten. „In jenen Jahren", so sagte ich, „waren die Gefängnisse von mehr politischen Häftlingen überfüllt als heute und sie wurden schlimmer behandelt. Berkman und Goldman wußten um diese Dinge, denn sie genossen Bewegungsfreiheit und hatten die Möglichkeit, viele Antibolschewisten zu sehen, die sie unterrichteten. Nichtsdestoweniger fanden sie Möglichkeiten, die Kommunisten zu verteidigen und sich selber dazu herzugeben, für die bolschewistische Sache anarchistische Proselyten zu gewinnen. Mit anderen Worten, wenn man für die Sowjets ist, so sind politische Häftlinge und Gefangenschaft ein Fleck auf dem reinen Wappenschild, den man bedauert; wenn man aber enttäuscht ist, so werden sie zu einer Waffe für einen offenen Kampf gegen Rußland."
    Alexander Berkman kritisierte meine Feststellung. Er schrieb aus Berlin: „Da ich während des ersten Jahres meines Rußlandaufenthaltes den Bolschewisten durchaus zugetan war und ich danach strebte, bei konstruktiver revolutionärer Arbeit zu helfen, suchte ich jede Gelegenheit, die kommunistischen Führer zu überzeugen, daß eine Politik revolutionärer Toleranz und eine ethische Haltung ihren politischen Gegnern auf der Linken der Revolution einen besseren Dienst leisten würde als Verfolgung. Sogar nach meinem endgültigen und offenen Bruch mit den Bolschewisten nach dem Blutbad von Kronstadt bemühte ich mich noch darum, ihre Politik gegenüber den verhafteten Revolutionären zu ändern."
    In diesem Punkte bekräftigte Berkman meine These. Er war pro-sowjetisch eingestellt, während er gleichzeitig die unmenschliche bolschewistische Behandlung politischer Gefangener verdammte. Dann aber verbitterte ihn die drakonische sowjetische Unterdrückung des Matrosenaufstandes auf der Insel Kronstadt gegen das gesamte Sowjetsystem. Dieses „Kronstadter Blutbad" verwandelte die bolschewistische Behandlung von Gefangenen von einem Anlaß zu einem privaten Protest in einen Grund für einen öffentlichen Angriff. Moskaus Grausamkeit gegenüber politischen Gefangenen hatte wahrscheinlich Berkmans Haltung, den Schrecken über Kronstadt unbefangen hinzunehmen, bereits beeinträchtigt, aber erst nach Kronstadt geschah es, daß Berkman ein geschworener Gegner wurde. Das, was entscheidend ins Gewicht fällt, ist eben dieses „Kronstadt". Ehe sich dies ereignete, konnte man vielleicht gefühlsmäßig schwanken oder intellektuelle Zweifel empfinden oder vielleicht sogar die ganze Idee geistig verwerfen und dennoch sich weigern, sie anzugreifen.
    Viele Jahre lang gab es für mich kein „Kronstadt".
    Die ganze Zeit über wog ich sorgsam bewußt und unbewußt das Sowjetregime gewichtsmäßig nach seinem Wert aus. Meine Art, das wahre Gewicht abzulesen, richtete sich nach dem, was ich in die Waagschalen tat. Einerseits war es für mich im Jahre 1924 ganz klar, daß der sowjetische Staat „die Wunschträume" oder „den Einzelmenschen" mißachtete. Die Freiheit ist nicht eine solche Ikone – ein solches Heiligenbild —, wie sie es im Westen ist; der Masse wirtschaftliche Freiheit zu geben, ist ein weit höheres Ziel. Auf diese Weise pflegten die Kommunisten das

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