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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Tolstoi, Dostojewskij und Turgenjew sowie einige Novellen von Gogol und Gorki. Die „Erinnerungen eines Revolutionärs" von dem russischen Anarchisten, dem Fürsten Peter Krapotkin, erfüllten mich mit Begeisterung durch ihren Idealismus und menschenfreundlichen Protest. Die Abenteuerlektüre meiner Jugendzeit enthielt auch Geschichten von tapferen Rebellen, die dem Tod ein Schnippchen schlugen, indem sie aus den Salzbergwerken in Sibirien entflohen. Meine Eltern, die in der kleinen Stadt Spola im Außenbezirk von Kiew geboren waren, erzählten mir von den Pogromen, wie sie von wodkatrunkenen Muschiks begangen wurden. Rußland schien mir roh und östlich, einerseits zivilisiert und doch unzivilisiert, literarisch und dann wieder ungebildet zu sein. Leuchtende Kultur, kaiserliche Pracht und Reichtum ohne Geschmack behaupteten sich gegen ein ungeheures Dunkel.
    Die gesamte Welt außerhalb Amerikas blieb für mich nebelhaft bis zum Beginn der militärischen Auseinandersetzung mit dem kaiserlichen Deutschland, und dann kam der Krieg, und ich selber wurde mit hineingezogen, wodurch mir sogar so ungeheure kriegsentscheidende Ereignisse verschlossen blieben, wie die Abdankung des Zaren zugunsten der provisorischen Regierung im März 1917 und die Geburt des Sowjetregimes im November 1917. Keine dieser Revolutionen hinterließ in dem Augenblick, in dem sie sich vollzogen, einen nachhaltigen Eindruck auf mich, und hätten sie es getan, so würde ich nicht begriffen haben, warum die „Provisorische" oder „Kerensky"-Regierung, die nach Lenins Worten aus Rußland das freieste Land der Welt machte, trotzdem von den Bolschewiken zugunsten einer ausgesprochenen Diktatur gestürzt worden war.
    Als ich 1920 nach dem Militärdienst in Übersee wieder zu Hause war, verspürte ich eine starke Neugier, die Ursache für den ersten Weltkrieg zu erfahren und durchforschte wissenschaftliche Werke, die von Gelehrten verschiedener Nationen über das Thema verfaßt worden waren. In ihren Schlußfolgerungen wichen sie voneinander ab, doch alle verteilten sie die Schuld am Kriege auf weite Kreise; in der Reihenfolge, in der sie schuldig waren, wurden jeweils das zaristische Rußland oder Osterreich-Ungarn an erster oder zweiter Stelle aufgeführt, sodann Deutschland, gefolgt von Frankreich und England. Alle diese Großmächte hatten durch Geheimverträge übereinkommen getroffen, kleine und hilflose Nationen zu zerstückeln und aufzuteilen. Dieser Expansionsdrang bei einer Reihe von Ländern hatte diese schließlich in Konflikte mit einer anderen Ländergruppe mit gleichen Expansionsbestrebungen gebracht, und so war es zum Kriege gekommen. Heute machen liberale New Yorker Wochenschriften der Versailler Friedenskonferenz den Vorwurf, sie habe nach dem gleichen üblen imperialistischen Grundsatz gehandelt. Trotz gelegentlicher hochtrabender Ermahnungen des Präsidenten Woodrow Wilson zeigten die Staatsmänner stärkeres Interesse an sofortigen territorialen und finanziellen Gewinnen als an Lösungen, die einen dauerhaften Frieden garantieren konnten.
    Meine neue Einstellung dem Krieg und dem Frieden gegenüber machte mich für eine bolschewistische Kritik an dem Westen empfänglich. Moskau brandmarkte Annexionen und Reparationen und wies warnend darauf hin, daß sie die Keime für einen neuen Krieg seien. Ein Maschinenstudent von der Universität Pennsylvania, der russisch sprach, machte mich mit den scharfen, bitter sarkastischen Noten bekannt, in denen der sowjetische Außenkommissar Tschitscherin die bürgerlichen Regierungen verhöhnte, weil sie ohne Berechtigung im russischen Bürgerkrieg auf der Seite der „weißen" Reaktionäre und Zaristen intervenierten. Die Bolschewiken, die gegen eine starke Übermacht zu kämpfen hatten, forderten die alte Welt zum Kampf heraus, die sich dagegen wehrte, daß eine neue geboren wurde. Rußland war der Unterlegene, der gegen die Mächte kämpfte, die den Weltkrieg gemacht hatten, aber den Frieden nicht machen konnten.
    Ich fühlte einen Drang, das Europa kennenzulernen, das eben erst einen großen Krieg und eine Revolution hervorgebracht hatte. Ich sparte einen Teil meines Einkommens aus gelegentlichen Arbeiten und ging im Dezember 1921 als freier Journalist ins Ausland.
    Europa war aus den Fugen geraten. Kerngesunde Kriegshelden durchzogen als Bettler die Straßen britischer Städte und spielten Harmonika oder sangen Quartette oder verkauften Bleistifte. Reihenweise waren die Plätze in den Londoner

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