Ein Gott der keiner war (German Edition)
irgendwelche Kenntnis von Rußland zu haben. Von ihrem Gesichtspunkt aus war alles, was sie wissen mußten, die Tatsache, daß Kravtschenko dem Sowjetsystem feindlich gegenüberstand. Dies bewies, daß er unrecht haben mußte.
Dieselbe Nichtachtung für Gewissenhaftigkeit gegenüber allem, was keine Theorie war, kam in der Arbeitsweise zur Anwendung. Der Zweck rechtfertigte die Mittel. Auf diese Weise fand der Korrespondent der kommunistischen Zeitung ein geradezu kleinliches Vergnügen daran, mir zu erzählen, daß es nötig sei, zu lügen. Daher erzählte mir der Schriftsteller-Kommissar voller Stolz, wie er es eingerichtet habe, daß ein Soldat, der in gewisser Beziehung unzuverlässig war, an einen Frontabschnitt in Spanien gesandt wurde, wo er mit Sicherheit erschossen wurde.
So kam es dazu, daß Harry Pollitt, der im Jahre 1939 eine Erklärung veröffentlichte, wonach der Krieg für die Demokratie gegen den Faschismus geführt werde, diese Erklärung dann rückgängig machte, als sie nicht mehr nach dem Belieben Rußlands war, und einwilligte zu sagen, daß es sich nur um ein Gezänk zwischen imperialistischen Kapitalisten in beiden Lagern handele. Dementsprechend sagte 1946 ein Führer der britischen kommunistischen Partei, den ich traf, vorwurfsvoll zu mir: „Warum machen Sie solchen unnötigen Lärm wegen des Lebens von ein paar tausend Polen, wenn doch die gesamte Sowjetunion auf dem Spiele steht?" Das Argument von einer abstrakten Summe, die man im Kopf hat, und die alle kleineren Überlegungen auslöschte, ist immer stichhaltig. Wenn die Parteilinie sich ändert und der Beschluß gefaßt worden ist, daß man, was gestern Demokratie war, heute Faschismus nennt, dann gibt es da keine Unbeständigkeit, denn die Parteilinie ist in Wirklichkeit nur eine Haltung, die die Partei gegenüber Nichtkommunisten einnimmt, also allen denen gegenüber, die ebenfalls die Objekte von Feststellungen sind, die sie in Abstraktionen verwandeln.
Der Hauptwert wird daher von den Kommunisten dementsprechend immer auf die Anwendung der Theorie auf die Wirklichkeit gelegt. Der glücklichste Kommunist lebt in einem Zustand historisch-materialistischer Gnade, in dem er, anstatt niemals den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, niemals die Bäume vor lauter Wald erblickt.
Da ich nie in einem Zustand der Gnade lebt; blieb mir die außergewöhnliche Sicherheit der Kommunisten in Dingen, von denen sie beinahe nichts verstanden, auf die sie aber dennoch ihre Theorien anwandten, immer ein Rätsel. Ein weiteres Rätsel war die Art, in der Kommunisten, die auf alles eine Antwort gewußt hatten, manchmal aufhören konnten, Kommunisten zu sein und auch keine mehr waren, indem sie nämlich zur Begründung ihrer Änderung genau die Gegengründe anführten, die kurz zuvor für sie nur insofern existiert hatten, als man sie zu mißachten oder durch Erklärungen aus der Welt zu schaffen hatte.
Ein interessantes Beispiel einer solchen Änderung war Mrs. Charlotte Haldane, die Schriftstellerin, die damals die Gattin Professor Haldanes war. Als ich sie zur Zeit des spanischen Bürgerkrieges kannte, war sie ein gutes Beispiel des Kommunisten im Zustande der Gnade. Bei einer Gelegenheit erinnere ich mich daran, mit ihr nach einer Versammlung durch eine Londoner Straße gefahren zu sein, in der die Leute im rieselnden Regen in Schlangen anstanden und auf die Straßenbahnen warteten. „Schlange stehen!" rief Mrs. Haldane aus. „Wie schändlich. Derartige Dinge würden in Rußland nicht geduldet werden." „Aber gewiß gibt es das Schlangestehen in Rußland", protestierte ich; „ich habe darüber gelesen." Mrs. Haldane warf mir einen Blick zu, der voll von jener stolzen Verachtung und gleichzeitig jenem hochmütigen Mitleid war, die für die verwöhnte kommunistische Weiblichkeit typisch sind.
Jedenfalls fuhr Mrs. Haldane während des Krieges nach Rußland als eine überzeugte stalinistische Anhängerin. Nach ihrer Rückkehr brach sie sowohl mit der kommunistischen Partei, wie auch mit ihrem Gatten, Professor Haldane. Später schrieb sie einen Artikel für die Presse, der in einer Beziehung aufschlußreich, in einer anderen rätselhaft ist. Sie schrieb hierin: „Jedes Wort und jede Handlung eines Sowjetbürgers, der Wissenschaftler ebensogut wie aller anderen Menschen, ist durchdrungen von der bewußten Erkenntnis, daß die Wachsamkeit der Partei nie aufhört, daß sie spioniert und Material sammelt. Jedes Wort, das gesprochen, geschrieben und
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