Ein Gott der keiner war (German Edition)
Weise heran, in der mein eigener Verstand arbeitete. Es war mir ganz klar, daß, wenn ich mich nicht unparteiisch um jedes ermordete Kind kümmerte, ich mich in Wirklichkeit um ermordete Kinder überhaupt nicht ernstlich kümmere. Ich vollzog nur eine obszöne geistige Handlung an gewissen Leichen, die als Zündstoff für propagandistische Leidenschaften dienten, aber meine fundamentale Gleichgültigkeit kam dadurch zum Ausdruck, daß ich mich uni die anderen Leichen, die die Opfer der Republikaner waren, gar nicht kümmerte.
Wenn ich mit dem Gedanken recht habe, daß die Menschen eine Neigung haben, abstrakt zu denken, und dabei nicht die menschlichen Realitäten in Rechnung stellen, auf die ihre politischen Leidenschaften einen Einfluß ausüben, dann läßt sich die Mentalität der Kommunisten ohne Schwierigkeiten erklären. Sie haben sich eine Theorie von der Gesellschaft zu eigen gemacht, die ein menschliches Laster ermutigt, nämlich: ihre eigene Sache und ihre eigenen Anhänger als real anzusehen und alle anderen Ideen und deren Exponenten als abstrakte Beispiele unmodern gewordener theoretischer Stellungnahmen zu betrachten.
Man könnte vielleicht behaupten, daß die Theorie das Laster rechtfertig; weil der Kommunismus letzten Endes die Bestimmung habe, die Menge und die Güte menschlichen Glückes zu erhöhen. Während dieser Jahre bin ich nach und nach zu der Entscheidung gekommen, daß ich nicht so denke, und zwar aus dem Grunde, weil die Selbstgerechtigkeit von Leuten, die der Ansicht sind, daß ihre „Linie" vollkommen mit dem Wohlergehen der Menschheit und dem geschichtlichen Ablauf in Einklang zu bringen sei (so daß jeder Außenseiter nur insofern lebt, als er widerlegt oder von der Linie aufgesogen wird), dazu führt, die Kommunisten selber zu entmenschlichen. Menschliche Geschichte wird von Menschen gemacht, die nach Grundsätzen handeln, nicht von Grundsätzen ohne Rücksicht auf die Charaktereigenschaft der Menschen. Wenn die Grundsätze die Menschen entmenschlichen, dann wird die Gesellschaft, die diese Männer schaffen, entmenschlicht. Obwohl ich niemals Ansichten, wie sie Aldous Huxley äußert, zugestimmt habe, daß alle Macht korrumpiere, glaube ich, daß die Macht nur dann vor der Korruption bewahrt wird, wenn sie durch Demut vermenschlicht wird. Ohne Demut artet die Macht in Verfolgungen, Hinrichtungen und öffentliche Lügen aus.
Ich konnte nicht umhin, bei mir und meinen Kollegen festzustellen, daß die Ermunterung zu dem Laster einer Denkungsart, wonach es nur eine menschliche gute Sache und eine menschliche Seite gäbe, in unseren Reihen eine schlechte Wirkung auf unsere Persönlichkeiten hatte. Sie lehrte uns, das Leiden für unsere eigenen Zwecke auszubeuten und es zu ignorieren, wenn es diesen Zwecken nicht dienlich war. Sie ermunterte uns dazu, uns ein parteiisches und unvollständiges Bild von Auseinandersetzungen zu machen, und nahm uns den Mut, dieses Bild im Lichte eines unmittelbaren Erlebnisses zu korrigieren, sobald dieses in einen Konflikt mit unseren theoretischen Anschauungen geriet.
Bei den kommunistischen Intellektuellen geriet ich immer vor die Tatsache, daß sie eine Berechnung aufgestellt hatten, als sie Kommunisten wurden, wodurch die gesamte Realität für sie in die gröbste Schwarz-Weiß-Zeichnung umgewandelt wurde. Es war, als wenn sie verstandesmäßig eine große Summe im Kopf hätten, deren Resultat sie kannten. Kein einziger Faktor, mit dem sie im alltäglichen Leben konfrontiert wurden, konnte die maßlos abstrakte Berechnung in ihren Hirnen beeinflussen. Die Revolution war der Anfang und das Ende, die Summe aller Summen. Eines Tages würde sich irgendwo alles zu der glücklichen Endsumme addieren, die die Diktatur des Proletariats und eine kommunistische Gesellschaft verkörperte. Diese Denkungsart löschte alle empirischen Entgegnungen aus.
Solchermaßen schienen die intellektuellen Kommunisten äußerst interessiert an der Theorie zu sein und sehr wenig am tatsächlichen Beweis, der eventuell mit der Theorie in Widerspruch geraten konnte. Ich traf zum Beispiel niemals jemanden, der auch nur das geringste Interesse an irgendeiner Seite Rußlands hatte, die nicht der Darstellung der stalinistischen Propaganda entsprach. Es überrascht mich nicht, daß während des Kravtschenko-Prozesses in Paris Kommunisten und Mitläufer freiwillig als Zeugen gegen das Buch „Ich wählte die Freiheit" auftraten, obwohl sie keinen Anspruch darauf machen konnten,
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