Ein Gott der keiner war (German Edition)
Stempel des Illegalen und Konspirativen. Der Neuling in der Partei fand sich in eine völlig fremde Welt gestürzt, als steige er in ein Tiefsee-Aquarium mit seinem fluoreszierenden Licht und seinen schwebenden, zerfließenden Formen. Es war eine Welt, in der es mir Vornamen gab – Edgar, Paula und Iwan —, keine Familiennamen oder Anschriften. Das galt nicht nur für die Mitarbeiter der verschiedenen „Apparate", sondern auch für die große Masse der einfachen Zellenmitglieder. Es war eine paradoxe Atmosphäre – eine Mischung von brüderlicher Kameradschaft und gegenseitigem Mißtrauen. Ihr Leitspruch hätte heißen können: „Liebe deinen Genossen, aber traue ihm nicht über den Weg – sowohl in deinem eigenen Interesse, denn er könnte dich verraten, als auch zu seinem Besten, denn je weniger er zu verraten versucht ist, um so besser für ihn." Dies gilt natürlich für jede Untergrundbewegung; und es wurde in der Partei als so selbstverständlich hingenommen, daß sich niemand der Charakterwandlungen und Veränderungen in den menschlichen Beziehungen innezuwerden schien, die eine lange Parteikarriere unweigerlich mit sich brachte.
Zum Ritter geschlagen
Dieser zweite „Treff" mit Schneller war der letzte. In dem Café schrieb ich mir Paulas Telephonnummer auf und machte mit ihr aus, sie in zwei Tagen in meiner Wohnung zu erwarten. Dann holte Schneller das Parteibuch hervor, auf dem „Iwan Steinberg" stand, und wir schüttelten einander verlegen die Hand. Paula warf mir denselben Schellfischblick zu wie das Mädchen im Büro. Ich fühlte, daß es lange dauern würde, ehe mir die Genossinnen dieses Typs Vertrauen entgegenbrachten. Ihre Kleider und Gesichter machten einen absichtlich ungepflegten Eindruck, als verabscheuten sie das Bemühen, hübsch zu sein, als bürgerliche Konvention; und sie hatten alle jenen „kühnen" Blick, der besagte: „Mir kann keiner was vormachen."
Ehe wir uns trennten, sagte Schneller mit seinem verlegenen Lächeln: „Da du jetzt Mitglied der Partei bist, mußt du zu mir und Paula ‚du' sagen und nicht ‚Sie." Mir war, als sei ich gerade zum Ritter geschlagen worden.
Zur festgesetzten Stunde erschienen Paula und Edgar in meiner Wohnung in Neu-Westend. Sie waren mit einer Taxe gekommen, und Paula hatte ihre Schreibmaschine mitgebracht. Edgar war ein blonder junger Mann mit einem glatten Lächeln; er mochte etwa dreißig sein. Wir sprachen über Politik. Ich hatte Bedenken hinsichtlich der Parteilinie: warum z. B. konnten wir uns in dem Augenblick, da Hitler vor den Toren stand, nicht mit den Sozialdemokraten einigen? Warum mußten wir sie unbedingt als „Sozialfaschisten" bezeichnen, was sie zur Raserei brachte und jede Zusammenarbeit mit ihnen unmöglich machte? Edgar setzte mir mit größter Geduld auseinander, daß die Partei keinen sehnlicheren Wunsch habe, als eine proletarische Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Massen zu errichten, daß aber die Einheit an der Basis zu beginnen habe und nicht an der Spitze. Die sozialdemokratischen Führer seien Verräter und würden jede mit ihnen getroffene Abmachung brechen. Der einzige Weg, die „Einheitsfront von unten" zu verwirklichen, sei, die Führer der Sozialdemokratie zu entlarven und die sozialdemokratischen Massen für uns zu gewinnen.
Er konnte glänzend argumentieren, und nach fünf Minuten war ich überzeugt, daß nur ein Vollidiot sich für eine Zusammenarbeit der beiden Arbeiterparteien im Kampf gegen die Nationalsozialisten einsetzen konnte. Edgar fragte mich, ob ich noch in irgendeinem anderen Punkte beraten zu werden wünsche, und als ich verneinte, schlug er mir sichtlich erleichtert vor, ihm alle politischen Informationen und den vertraulichen Klatsch aus dem Ullstein-Haus zu erzählen. Nach ein oder zwei Minuten fragte er, ob ich etwas dagegen hätte, wenn Paula das von mir Gesagte auf der Maschine mitschreibe – das würde „Arbeit sparen". Ich hatte nichts dagegen.
In den nächsten Wochen bestand meine ganze Parteitätigkeit darin, daß ich Paula ein- oder zweimal wöchentlich Berichte diktierte. Manchmal kam auch Edgar mit vorbei, um mit seinem glatten, leicht ironischen Lächeln zuzuhören, wobei er im Zimmer auf und ab schritt. Da auch ich die Angewohnheit habe, beim Diktieren umherzulaufen, marschierten wir zuweilen beide im rechten Winkel zueinander durch mein Wohnzimmer, wodurch eine Atmosphäre brüderlicher Zusammenarbeit entstand. Das ist aber auch alles, was mir die
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