Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
hast, er erzählt sie aber doch, indem er so tut, als glaube er, daß du sie noch nie gehört hättest. Die Vision des Königs von Schweden – die ist unter ihnen, glaube ich, aus der Mode; aber in meiner Jugend wurde sie mit stockendem Atem, geheimnisvoll flüsternd wiederholt, genauso wie die andere, daß am Anfang des Jahrhunderts jemand im Senat vor den Senatoren gekniet hätte. Auch über den Kommandanten Baschutzkij kursierten viele Anekdoten, und zwar darüber, wie man ein Monument geklaut hätte. Hofanekdoten sind ganz besonders beliebt; zum Beispiel die Geschichte über den Minister Tschernyschew, wie der als Siebzigjähriger sein Äußeres so manipuliert hätte, daß er wie ein Dreißigjähriger aussah und die selige Majestät sich bei Empfängen immer von neuem wunderten …«
»Auch dies habe ich gehört.«
»Wer hat das nicht gehört? Alle diese Anekdoten sind der Gipfel der Geschmacklosigkeit; aber du mußt wissen, daß dieser Typus des Geschmacklosen viel tiefer und weiter verbreitet ist, als wir glauben. Den Wunsch zu schwindeln, mit der Absicht, seinen Nächsten zu beglücken, findest du sogar in unserer besten Gesellschaft, denn wir alle leiden an dieser Maßlosigkeit unserer Herzen. Nur sind unter uns die Erzählungen anderer Art; was unter uns allein über Amerika erzählt wird, das ist ganz schrecklich, und das sogar unter den Staatsmännern! Ich selbst gehöre, zugegeben, zu diesem abgeschmackten Typus und habe mein ganzes Leben lang darunter gelitten …«
»Von Tschernyschow habe ich selbst einige Male erzählt.«
»Selbst erzählt?«
»Hier wohnt außer mir noch ein anderer Mieter, ein Beamter, ebenfalls pockennarbig und schon ein alter Mann, der ist aber furchtbar prosaisch und beginnt, kaum daß Pjotr Ippolitowitsch den Mund auftut, ihn aus dem Konzept zu bringen und ihm sofort zu widersprechen. Und er hat ihn so weit gebracht, daß er ihn wie ein Sklave bedient und ihm alles zu Gefallen tut, alles, damit er ihm nur zuhört.«
»Das ist ein anderer Typ von Abgeschmacktheit, vielleicht sogar widerlicher als der erste. Der erste – ist pures Entzücken! ›Laß mich nur schwindeln, du wirst schon sehen, wie fabelhaft es wird!‹ Der zweite – nichts als Hypochondrie und Prosa: ›Ich lasse mir nichts vormachen – wo, wann, Jahreszahl?‹ – mit einem Wort, ein Mensch ohne Herz. Mein Freund, laß dem Menschen immer eine kleine Chance zum Schwindeln – es ist doch unschuldig. Sogar zum gründlichen Schwindeln. Erstens wird das dein Taktgefühl beweisen, und zweitens wird man dich dafür ebenfalls schwindeln lassen – zwei kolossale Erfolge auf einen Schlag. Quel diable ! Man soll doch seinen Nächsten lieben! Aber für mich wird es Zeit. Du bist reizend eingerichtet«, fügte er hinzu, indem er sich erhob. »Ich werde Sofja Andrejewna und deiner Schwester berichten, daß ich dich besucht und dich bei bester Gesundheit angetroffen habe. Auf Wiedersehen, mein Lieber.«
Wie, war das alles? Aber mir ging es doch um etwas anderes; ich hatte etwas ganz anderes erwartet, die Hauptsache, obwohl ich vollkommen einsah, daß etwas anderes unmöglich war. Ich wollte ihn mit meiner Kerze bis ins Treppenhaus begleiten; der Vermieter eilte herbei, aber ich packte ihn, unbemerkt von Werssilow, aus aller Kraft bei der Hand und stieß ihn wütend zur Seite. Er sah mich erstaunt an, verschwand aber sofort.
»Diese Treppen …«, murmelte Werssilow gedehnt, offensichtlich, um überhaupt etwas zu sagen, und offensichtlich aus Furcht, ich könnte etwas sagen, »diese Treppen – ich bin’s nicht mehr gewohnt, und du wohnst im dritten Stock, aber jetzt komme ich auch allein weiter. Mach keine Umstände, mein Lieber, du wirst dich noch erkälten.«
Aber ich wich nicht. Wir waren schon im zweiten Stock.
»Ich habe diese ganze drei Tage auf Sie gewartet«, brach es auf einmal aus mir hervor, wie von selbst; ich rang nach Atem.
»Danke, mein Lieber.«
»Ich wußte, daß Sie unbedingt kommen würden.«
»Und ich wußte, daß du wußtest, daß ich unbedingt kommen würde. Danke, mein Lieber.«
Er verstummte. Wir hatten bereits die Haustür erreicht, aber ich folgte ihm immer noch. Er öffnete die Tür; ein schneller Windstoß löschte meine Kerze. Da packte ich ihn plötzlich bei der Hand; es war vollkommen dunkel. Er zuckte, aber er schwieg. Ich neigte mich über seine Hand und überschüttete sie plötzlich mit gierigen Küssen, vielen, sehr vielen.
»Mein lieber Junge, aber wofür
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