Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mehrere Male. Ich wiederhole, diese Zeit war die Zeit einer furchtbaren Schmach, aber auch eines überwältigenden Glücks … Und auch alles andere gelang damals so leicht und lächelte mir zu! “Und wozu diese ganze frühere Düsternis?” dachte ich in manchen trunkenen Augenblicken. “Wozu dieser alte kranke Nadryw ?” Meine einsame, trübselige Kindheit, meine albernen Träume unter der Decke, Schwüre, Revanchen und sogar die »Idee«? All das habe ich mir ausgemalt und ausgedacht, aber es erweist sich, daß es in der Welt ganz anders zugeht; mir ist jetzt so froh und unbeschwert zumute: Ich habe einen Vater – Werssilow, ich habe einen Freund – Fürst Serjoscha, ich habe auch noch … aber von diesem »auch noch« wollen wir einstweilen schweigen. Ach, alles geschah im Namen von Liebe, Großmut, Ehre und entpuppte sich später als unanständig, unverschämt und ehrlos.
Schluß!
II
Das erste Mal war er am dritten Tag nach unserem damaligen Zerwürfnis zu mir gekommen. Ich war nicht zu Hause gewesen, er blieb, um auf mich zu warten. Als ich in der Tür zu meiner winzigen Kammer stand, wurde es mir gleichsam dunkel vor Augen, obwohl ich die ganzen drei Tage gewartet hatte, und mein Herz machte einen solchen Sprung, daß ich auf der Schwelle innehielt. Zum Glück saß mein Vermieter bei ihm, der es für angebracht gehalten hatte, sich mit dem Gast bekannt zu machen und ihn, um ihm das Warten abzukürzen, lebhaft plaudernd unterhielt. Er war Titularrat, schon in den Vierzigern, das Gesicht voller Pockennarben, sehr arm, belastet durch die Krankheit seiner schwindsüchtigen Frau und durch ein ebenfalls krankes Kind; er war von Natur äußerst mitteilungsfreudig und friedfertig und auch ziemlich taktvoll. Ich freute mich über seine Anwesenheit, er half mir sogar aus der Verlegenheit, denn was hätte ich Werssilow sagen können? Ich hatte gewußt, allen Ernstes, ich hatte in diesen drei Tagen ja gewußt, daß Werssilow kommen würde, als erster – genau so, wie ich es mir wünschte, denn ich wäre um nichts auf der Welt als erster zu ihm gegangen, nicht einmal aus Trotz, sondern gerade aus Liebe zu ihm, aus einer eifernden Liebe – ich kann es nicht richtig ausdrücken. (Aber auch sonst sucht ja der Leser bei mir vergeblich nach Eloquenz.) Obwohl ich ihn in den drei Tagen erwartet und mir fast ununterbrochen vorgestellt hatte, wie er hereinkäme, war ich nicht im mindesten fähig gewesen, mir im voraus, trotz heftigster Anstrengungen, vorzustellen, worüber wir plötzlich ein Gespräch führen könnten, nach allem, was vorgefallen war.
»Aha, da bist du ja«, er streckte mir freundschaftlich die Hand entgegen, ohne sich zu erheben. »Setz dich doch zu uns, Pjotr Ippolitowitsch erzählt mir gerade die hochinteressante Geschichte von diesem Stein, bei den Pawlowschen Kasernen … oder sonst irgendwo in der Nähe …«
»Ja, den Stein kenne ich«, antwortete ich möglichst rasch und ließ mich auf dem Stuhl neben den beiden nieder. Sie saßen am Tisch. Das ganze Zimmer hatte genau zwei Saschen im Quadrat. Ich holte nur mit Mühe Luft.
Ein Funken von Vergnügen blitzte in Werssilows Augen auf: Wahrscheinlich hatte er gezweifelt und geglaubt, ich würde ihm eine Szene machen. Er hatte sich beruhigt.
»Beginnen Sie doch bitte noch einmal von vorne, Pjotr Ippolitowitsch.«
Die beiden waren schon so weit, daß sie einander mit Vor- und Vatersnamen anredeten.
»Also, das war noch unter dem seligen Zaren«, wandte sich Pjotr Ippolitowitsch an mich, nervös und gewissermaßen gequält, als bange er im voraus um den erwarteten Effekt, »Sie kennen doch diesen Stein – so ein dummer Stein, mitten auf der Straße? Wozu? Warum? Nur ein Hindernis, nicht wahr? Majestät fuhren mehrmals über die Straße, und jedesmal lag dieser Stein da. Schließlich nahmen Majestät Anstoß, und in der Tat: Ein ganzer Berg, ein richtiger Berg ragt mitten auf der Straße, verdirbt die Straße. ›Weg damit!‹ Also, Majestät sagten: ›Weg mit dem Stein!‹ – verstehen Sie auch, was das bedeutet: ›Weg damit!‹ Man weiß heute noch, wie Majestät waren. Wohin also mit dem Stein? Keiner wußte aus noch ein: Nicht die Duma mit ihrem Mitspracherecht, und vor allem nicht, ich weiß nicht mehr genau, wer eigentlich, aber einer der allerersten damaligen Würdenträger, der damit beauftragt war. Also, dieser Würdenträger hört sich das an: Man spricht von fünfzehntausend, keine Kopeke weniger, und zwar in Silber (denn in
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