Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Selbstverständlich hatte Stjebelkow zu Recht vermutet, daß der Alte für ihre Mitgift aufkommen würde, aber wie konnte ausgerechnet er mit einem persönlichen Vorteil dabei rechnen? Vorhin hatte der Fürst ihm nachgerufen, er fürchte ihn nicht im geringsten: Vielleicht hatte Stjebelkow sich im Kabinett vor ihm über Anna Andrejewna verbreitet; ich konnte mir vorstellen, wie ich an seiner Stelle vor Wut gerast hätte.
Bei Anna Andrejewna hatte ich in letzter Zeit sogar ziemlich oft vorgesprochen. Aber dabei ging es jedes Mal ziemlich merkwürdig zu: Sie pflegte stets selbst zu bestimmen, wann ich zu kommen hätte, und sich auf mein Kommen einzustellen, ließ aber bei meinem Eintreten den Eindruck entstehen, ich erschiene unerwartet und unverhofft. Obwohl mir dies sehr wohl aufgefallen war, hing ich dennoch an ihr. Sie lebte bei der Fanariotowa, ihrer Großmutter, als deren Pflegetochter (Werssilow steuerte nichts zu ihrem Unterhalt bei) – aber keineswegs in der Rolle, in der Pflegetöchter in den Häusern vornehmer Damen beschrieben werden, zum Beispiel von Puschkin in »Pique Dame« die Pflegetochter der alten Gräfin. Anna Andrejewna war selbst eine Art Gräfin. Sie wohnte in diesem Haus völlig separat, das heißt natürlich auf derselben Etage und in derselben Wohnung wie die Fanariotowa, aber in zwei separaten Räumen, so daß ich beim Hereintreten und Herausgehen kein einziges Mal irgend jemand von den Fanariotows begegnete. Sie hatte das Recht, jeden nach Wunsch zu empfangen und ihre Zeit nach eigenem Befinden einzuteilen. Allerdings hatte sie ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag schon hinter sich. Seit dem vergangenen Jahr hatte sie fast ganz aufgehört, in der großen Welt zu erscheinen, wiewohl der Fanariotowa für ihre Enkelin, die sie, wie man hörte, sehr liebte, nichts zu teuer war. Mir dagegen gefiel an Anna Andrejewna, daß ich sie immer so bescheiden angekleidet antraf, stets beschäftigt, sei es mit einem Buch oder einer Handarbeit. Ihre Erscheinung wirkte irgendwie klösterlich, beinahe nonnenhaft, und das gefiel mir. Sie war nicht besonders gesprächig, aber was sie sagte, hatte stets Gewicht, außerdem hörte sie überaus gut zu, was ich niemals fertigbrachte. Wenn ich ihr sagte, daß sie, auch ohne einen einzigen gemeinsamen Zug, mich außerordentlich an Werssilow erinnerte, errötete sie jedesmal leicht. Sie errötete oft und immer sehr schnell, aber immer nur ganz leicht, und ich fand großen Gefallen an dieser Besonderheit. In ihrer Gegenwart nannte ich Werssilow nie mit Familiennamen, sondern immer Andrej Petrowitsch, auch das ergab sich irgendwie von selbst. Mir war es sehr wohl aufgefallen, daß die Fanariotows sich vermutlich wegen Werssilow genierten; übrigens fiel es mir allerdings nur an Anna Andrejewna auf, wiewohl ich wiederum nicht weiß, ob ich in diesem Fall den Ausdruck »genieren« gebrauchen soll; aber irgend etwas dieser Art ließ sich nicht von der Hand weisen. Ich hatte ihr auch schon vom Fürsten Sergej Petrowitsch erzählt, und sie hatte sehr aufmerksam zugehört und sich, wie mir schien, für das Gehörte sehr interessiert; aber es fügte sich immer so, daß ich von mir aus berichtete, sie aber niemals mich ausfragte. Ich habe nie gewagt, die Möglichkeit einer Eheschließung zwischen ihnen auch nur anzudeuten, wiewohl ich es häufig wünschte, zum Teil, weil ich selbst an dieser Idee Gefallen fand. Aber in ihrem Zimmer verlor ich überhaupt den Mut, über vieles zu sprechen, obwohl ich mich in diesem Zimmer so überaus wohl fühlte. Großen Gefallen fand ich auch daran, daß sie sehr gebildet war und viel las, sogar gescheite Bücher; sie war viel belesener als ich.
Das erste Mal hatte sie selbst mich zu sich gebeten. Ich hatte auch schon damals gedacht, daß sie vielleicht beabsichtigte, durch mich einiges zu erfahren. Oh, damals hätten viele durch mich sehr viel erfahren können! “Aber was tut das schon?” hatte ich gedacht. “Das ist doch für sie nicht der einzige Grund, mich zu empfangen”; mit einem Wort, ich war sogar froh, ihr nützlich sein zu können und … und wenn ich neben ihr saß, hatte ich stets das Gefühl, daß jetzt eine Schwester neben mir säße, wiewohl wir unsere Verwandtschaft noch nie erwähnt hatten, nicht mit einem einzigen Wort, nicht mit einer einzigen Andeutung, so, als ob es sie überhaupt nicht gäbe. In ihrer Gegenwart schien es mir völlig undenkbar, davon auch nur anzufangen, bei ihrem Anblick kam mir zuweilen sogar der
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