Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wirklich absurde Gedanke, sie könne von unserer Verwandtschaft vielleicht überhaupt nichts ahnen – ihr Verhalten mir gegenüber hätte durchaus dafür sprechen können.
III
Als ich bei ihr eintrat, fand ich mich plötzlich Lisa gegenüber. Ich war fast erschüttert. Ich wußte wohl, daß sie sich früher begegnet waren, und zwar bei dem »Säugling«. Von dem phantastischen Einfall der stolzen und sittsamen Anna Andrejewna, dieses Kind zu sehen, und von der dort stattgefundenen Begegnung mit Lisa werde ich vielleicht später erzählen, bei einer anderen Gelegenheit; aber ich hatte nie und nimmer erwartet, daß Anna Andrejewna irgendwann Lisa zu sich bitten würde. Das war für mich eine freudige Erschütterung. Selbstverständlich, ohne dies zu zeigen, begrüßte ich Anna Andrejewna, drückte Lisa kräftig die Hand und nahm an ihrer Seite Platz. Beide waren beschäftigt: Auf dem Tisch vor ihnen und auf ihren Knien lag ein teures Gesellschaftskleid Anna Andrejewnas, das inzwischen alt, das heißt dreimal getragen war und auf ihren Wunsch irgendwie verändert werden sollte. Lisa war in dieser Hinsicht eine große Meisterin, hatte Geschmack und wurde deshalb zu dem feierlichen Rat »weiser Frauen« hinzugezogen. Ich erinnerte mich an Werssilow und mußte laut lachen; vom Scheitel bis zur Sohle war ich strahlend guter Laune.
»Sie sind heute guter Laune, und das ist sehr angenehm«, sagte Anna Andrejewna, jedes ihrer Worte gemessen und bedeutungsvoll prononcierend. Ihre Stimme war ein voller, klangvoller Alt, aber sie sprach stets ruhig und leise, die langen Wimpern immer leicht gesenkt und mit einem kaum merklichen Lächeln auf dem blassen Gesicht.
»Lisa weiß, wie unangenehm ich bin, wenn ich schlechte Laune habe«, sagte ich lachend.
»Vielleicht weiß das Anna Andrejewna auch«, neckte Lisa spielerisch. Die Liebe! Hätte ich nur gewußt, wie es damals in ihrer Seele aussah!
»Und was tun Sie jetzt?« fragte Anna Andrejewna. (Dazu sei bemerkt, daß sie mich sogar ausdrücklich gebeten hatte, sie heute aufzusuchen.)
»Ich sitze jetzt hier und frage mich, warum sehe ich Sie lieber über einem Buch als mit einer Handarbeit? Ja, wirklich, eine Handarbeit paßt irgendwie nicht zu Ihnen. In dieser Hinsicht teile ich die Auffassung Andrej Petrowitschs.«
»Sie haben sich noch nicht entschlossen, die Universität zu besuchen?«
»Ich bin grenzenlos dankbar, daß Sie unsere Unterhaltung nicht vergessen: Es bedeutet, daß Sie zuweilen an mich denken; aber … aber, was die Universität angeht, da habe ich noch nicht die richtigen Vorstellungen, außerdem habe ich eigene Pläne.«
»Das heißt, er hat ein Geheimnis«, bemerkte Lisa.
»Das ist kein Spaß, Lisa. Ein kluger Kopf hat in den letzten Tagen geäußert, wir hätten in unserer gesamten progressiven Entwicklung der letzten zwanzig Jahre in erster Linie bewiesen, daß wir himmelschreiend ungebildet sind. Damit waren natürlich auch unsere Universitätsstudierenden gemeint.«
»Das hat bestimmt Papa gesagt; du plapperst furchtbar oft seine Gedanken nach«, bemerkte Lisa.
»Lisa, das klingt so, als glaubtest du, ich hätte keine eigenen Gedanken.«
»In unserer Zeit ist es sehr nützlich, den Worten kluger Menschen zu lauschen und sie zu behalten.« Anna Andrejewna trat mit einem leichten Lächeln für mich ein.
»So ist es, Anna Andrejewna«, fiel ich lebhaft ein. »Wer sich keine Gedanken über die gegenwärtige Situation Rußlands macht, der ist kein Bürger! Ich betrachte Rußland von einem besonderen Standpunkt aus: Wir haben den Einfall der Tataren überstanden, anschließend eine zweihundertjährige Knechtschaft, und dies natürlich nur, weil beides nach unserem Geschmack war. Jetzt ist uns die Freiheit gegeben, und jetzt gilt es, auch die Freiheit zu überstehen: Bringen wir das fertig? Wird es sich erweisen, daß auch die Freiheit nach unserem Geschmack ist? Das ist die Frage.«
Lisa warf Anna Andrejewna einen Blick zu, während diese sofort die Augen niederschlug, um irgend etwas in ihrer Nähe zu suchen; ich sah, daß Lisa sich aus allen Kräften beherrschte, aber plötzlich begegneten sich unsere Blicke, und sie mußte lachen; ich war empört.
»Lisa, ich versteh dich nicht!«
»Verzeih!« sagte sie plötzlich, ohne zu lachen und beinahe traurig. »Mir geht Gott weiß was durch den Kopf …«
Plötzlich glaubte ich, Tränen in ihrer zitternden Stimme zu hören, auf einmal schämte ich mich schrecklich: Ich ergriff ihre Hand und küßte
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