Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
persönlich herein und fragte sie mit einer töricht bedeutungsvollen Miene, ob sie mit den Erfolgen ihres Sohnes zufrieden sei. Mama verlor sich daraufhin in zusammenhanglosem Stammeln und Danksagungen; Antonina Wassiljewna trat hinzu. Mama flehte darauf die beiden an, »sich der Waise weiterhin anzunehmen, denn jetzt ist er so gut wie eine Waise. Erweisen Sie ihm Eure Wohltat …« – und mit Tränen in den Augen verneigte sie sich vor den beiden, vor jedem einzeln, mit einer tiefen Verneigung, nämlich so, wie sich das »einfache Volk« verneigt, wenn es sich als Bittsteller vor die Hohe Herrschaft wagt. Sogar die Touchards hatten dies nicht einmal erwartet, Antonina Wassiljewna war offensichtlich besänftigt und hat auf der Stelle ihre Meinung wegen der Tasse Kaffee geändert, Touchard, noch bedeutungsvoller, antwortete höchst human, daß er »bei den Kindern keinen Unterschied mache, daß alle in seinem Haus seine Kinder seien, daß er ihrer aller Vater sei, daß ich hier fast auf einem Fuß mit Grafen- und Senatorenkindern stehe, daß man dies zu schätzen habe« usw. usw. Mama vermochte nur, sich immer wieder zu verneigen, allerdings sichtlich verlegen, bis sie sich schließlich zu mir wandte und mit tränenerfüllten Augen sagte: »Leb wohl, mein Kind!«
Und sie küßte mich, das heißt, ich habe ihr gestattet, mich zu küssen. Sie wünschte offenkundig, mich wieder und wieder zu küssen, zu umarmen, an ihr Herz zu drücken, aber ob sie sich vor all den Fremden genierte, ob etwas anderes ihr Herz bedrückte, ob sie erriet, daß ich mich ihrer schämte – sie ging, nachdem sie sich noch einmal von den Touchards verneigt hatte, eilig auf den Ausgang zu. Ich stand da, ohne mich zu rühren.
» Mais suivez donc votre mère«, sagte Antonina Wassiljewna, »il n’a pas de coeur, cet enfant! «
Touchard zuckte zur Antwort die Schultern, was natürlich bedeutete: “Es hat also seinen Grund, daß ich ihn wie einen Lakaien traktiere.”
Ich folgte meiner Mutter gehorsam die Treppe hinunter; wir traten hinaus auf die Vortreppe. Ich wußte, daß sie uns jetzt alle dort aus dem Fenster beobachteten. Mama wandte sich zu der Kirche um und schlug dreimal andächtig ein Kreuz, ihre Lippen zitterten. Die mächtige Glocke dröhnte voll und gemessen vom Glockenturm herab. Sie wandte sich zu mir und – konnte nicht länger an sich halten. Sie legte mir beide Hände auf den Kopf und weinte über meinem Haupt.
»Mama, hören Sie auf … peinlich … die sehen das doch aus dem Fenster …«
Sie richtete sich sofort auf und sprach hastig:
»Der Herr wird … der Herr sei mit dir! Mögen die Engel des Himmels dich behüten, die Hochheilige Muttergottes und der Heilige Nikolaj, der Gottesknecht … o Herr, o Herr!« wiederholte sie, mich ununterbrochen bekreuzend, bemüht, möglichst viele Kreuze, möglichst dicht gedrängt, über mir zu schlagen, »mein Kind, mein liebes Kind, aber warte, mein Lieber …« Sie fuhr schnell mit der Hand in die Tasche und zog ein blaukariertes Taschentüchlein heraus, das an einer Ecke zu einem winzigen Knoten geknüpft war, und begann, dieses Knötchen zu lösen … Aber es ließ sich nicht aufknüpfen …
»Nun, macht nichts, nimm’s mit dem Tüchlein, es ist ganz sauber, vielleicht kannst du’s gebrauchen, vier Zwanziger sind drin, vielleicht kommen sie dir gelegen, verzeih, mein Kind, aber ich hab gerade selbst nicht mehr … verzeih, mein Kind.«
Sie hat mich noch einmal bekreuzt, noch einmal ein Gebet geflüstert und plötzlich – plötzlich verneigte sie sich vor mir, ganz genauso wie oben vor den Touchards, tief, langsam und lange – ich werde es niemals vergessen! Ich fuhr zusammen und wußte selbst nicht, warum. Was sie mir mit dieser Verneigung hat sagen wollen: “Ob sie sich ihrer Schuld vor mir bewußt wurde?” – wie es mir einmal, sehr lange danach, durch den Kopf ging –, ich weiß es nicht. Aber damals genierte ich mich sofort noch mehr, weil »sie von oben alles beobachten und Lambert mich vielleicht sogar prügeln wird«.
Endlich ging sie. Apfelsinen und Lebkuchen hatten die Grafen- und Senatorenkinder schon vor meiner Rückkehr verspeist, und die vier Zwanziger hat Lambert mir auf der Stelle abgenommen; mit diesem Geld kauften sie in der Konditorei Pastetchen und Schokolade und boten mir nicht einmal etwas davon an.
So verstrich ein volles halbes Jahr, und der windige und regnerische Oktober brach an. Ich hatte Mama ganz vergessen. Oh, damals
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