Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
war bereits ein Haß, ein dumpfer Haß gegen alles in mein Herz gezogen und hatte alles völlig durchtränkt; ich bürstete zwar Touchard nach wie vor mit der Kleiderbürste, haßte ihn aber schon aus vollem Herzen, mit jedem Tag glühender und glühender. Und dann, einmal, ausgerechnet in der trübseligen Abenddämmerung, nahm ich mir aus irgendeinem Grund vor, in meiner Schublade aufzuräumen, und entdeckte plötzlich in der hintersten Ecke ihr blaues Battisttüchlein; es war so liegengeblieben, wie ich es damals hineingetan hatte. Ich zog es hervor und untersuchte es sogar mit einigem Interesse; einer seiner Zipfel zeigte die Spur des einstigen Knotens noch unverändert und sogar auch den runden Abdruck einer Münze; damals habe ich übrigens das Tüchlein an dieselbe Stelle zurückgelegt und die Schublade wieder zugeschoben. Das war am Vorabend eines Feiertags geschehen, und die Kirchenglocke läutete dröhnend zur Abendmesse. Die Zöglinge waren schon nach dem Mittagessen nach Hause gefahren, aber Lambert blieb diesmal über Sonntag, ich weiß nicht, warum man ihn nicht geholt hatte. Er fuhr immer noch fort, mich regelmäßig zu prügeln, hatte sich aber zur Gewohnheit gemacht, mich in vielen Dingen ins Vertrauen zu ziehen, und war auf mich angewiesen. Wir unterhielten uns den ganzen Abend über Pistolen von Lepage, von denen keiner von uns jemals auch nur eine einzige gesehen hatte, über Tscherkessensäbel und darüber, wie sie bei Schlachten gehandhabt werden, über Räuberbanden, zu denen man am besten stoßen sollte, und schließlich kam Lambert wieder auf sein Lieblingsthema, die bewußten schändlichen Anekdoten, die ich, auch wenn ich mich im stillen wunderte, doch sehr gerne hörte. Diesmal aber wurde es mir plötzlich unerträglich, und ich sagte ihm, ich hätte Kopfschmerzen. Um zehn Uhr gingen wir zu Bett; ich schlüpfte mit dem Kopf unter die Decke und zog dann unter dem Kissen das blaue Tüchlein hervor: Ich war nämlich vor einer Stunde, ich weiß selbst nicht, weshalb, wieder hinuntergegangen, hatte es aus der Schublade geholt und es dann, sobald unsere Betten aufgedeckt waren, unter mein Kopfkissen gesteckt. Ich drückte es an mein Gesicht und bedeckte es plötzlich mit Küssen. »Mama, Mama«, flüsterte ich, mich erinnernd, und meine Brust schmerzte wie in einem Schraubstock. Ich schloß die Augen und sah ihr Gesicht mit den zitternden Lippen, wie sie vor der Kirche das Kreuz schlug und dann auch mich bekreuzte, während ich zu ihr sagte: »Peinlich, man sieht uns.« »Mamotschka, Mama, ein einziges Mal im Leben bist du zu mir gekommen … Mamotschka, wo bist du jetzt, du, mein ferner Gast? Denkst du wohl jetzt an deinen armen Sohn, den du besucht hast? … Zeig dich mir noch einmal, erscheine mir wenigstens im Traum, nur, damit ich dir sagen kann, wie ich dich liebe, nur, damit ich dich in die Arme schließen, deine blauen Augen küssen und dir sagen kann, daß ich mich jetzt deiner überhaupt nicht mehr schäme und daß ich dich schon damals liebte und daß mein Herz mich damals schmerzte, während ich stur neben dir hockte wie ein Lakai. Niemals wirst du erfahren, Mama, niemals, wie ich dich damals geliebt habe! Mamotschka, wo bist du jetzt, hörst du mich? Mama, Mama, erinnerst du dich noch an das Täubchen in der Dorfkirche? …«
»Hol’s der Teufel. Was hat der nur!« knurrte Lambert in seinem Bett. »Warte, ich werd’s dir zeigen! Läßt einen nicht schlafen …« Er springt aus dem Bett, läuft auf mich zu und zerrt an meiner Bettdecke, aber ich habe mich mit dem Kopf eingewickelt und halte sie mit aller Kraft fest.
»Der pläch’t ja, warum pläch’st du, du Dummkopf, du Dummkopf! Da hast du’s!« und er prügelte auf mich ein, boxte mich schmerzhaft mit der Faust in den Rücken, in die Seite, es tut weh, immer mehr und … und plötzlich schlage ich die Augen auf …
Es tagt bereits, Rauhreif funkelt auf dem Schnee und auf der Mauer … Ich kauere, kaum noch lebend, starr vor Kälte, unter meinem Pelz, jemand steht über mir, weckt mich, flucht laut und stößt mich mit der rechten Stiefelspitze schmerzhaft in die Seite. Ich hebe den Kopf und sehe: ein Mann, im prachtvollen Bärenpelz und Zobelmütze, mit schwarzen Augen, pechschwarzem gepflegten Backenbart, Höckernase, die weißen Zähne gebleckt, das Gesicht weiß und rotbackig wie eine Maske … Er beugt sich ganz nahe zu mir herab, und wenn er atmet, fliegt sein Atem in der Kälte wie eine Dampfwolke aus dem
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