Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Mund:
»Ech’fch’roren, du besoffener Dummkopf! Steh auf, du erfrierst sonst wie ein Hund! Steh auf!«
»Lambert!« schreie ich.
»Wer bist du?«
»Dolgorukij.«
»Was für ein Dolgorukij, zum Teufel?«
» Einfach Dolgorukij! … Touchard … dem du im Restaurant die Gabel in die Rippen gejagt hast! …«
»Ha-a!« ruft er aus und lächelt das breite Lächeln des Erinnerns (sollte er mich wirklich vergessen haben?). »Ha! Also du bist das, du!«
Er hebt mich auf, stellt mich auf die Beine; ich kann mich kaum aufrecht halten, kann mich kaum bewegen, er führt mich und stützt mich mit dem Arm. Er sieht mir immerfort in die Augen, als erinnere er sich und überlege, hört mir sehr angestrengt zu, ich aber stammle ebenfalls angestrengt, ununterbrochen, ohne Atem zu holen, und bin froh, so froh, daß ich sprechen kann und daß es Lambert ist. Habe ich aus irgendeinem Grunde geglaubt, daß er meine »Rettung« sei, oder klammerte ich mich an ihn in diesem Moment, weil ich ihn für einen Menschen aus einer anderen Welt hielt, ich weiß es nicht – ich überlegte damals nicht –, aber ich klammerte mich an ihn, ohne zu überlegen. Was ich damals geredet habe, weiß ich überhaupt nicht, es wird kaum etwas Vernünftiges gewesen sein, ich habe sogar die Worte kaum richtig artikulieren können; er aber hörte sehr aufmerksam zu. Er winkte den ersten Droschkenkutscher, der uns in den Weg kam, heran, und einige Minuten später befand ich mich in der Wärme, in seinem Zimmer.
III
Jeder Mensch, wer er auch sei, bewahrt ganz gewiß eine Erinnerung an ihm Zugestoßenes, was er als etwas Phantastisches, Besonderes betrachtet oder angesichts dessen er dazu neigt, es für wundersam zu halten, sei es – ein Traum, eine Begegnung, Weissagung, Vorahnung oder sonst etwas dieser Art. Ich neige bis heute dazu, diese meine Begegnung mit Lambert für etwas nahezu Prophetisches zu halten … jedenfalls angesichts der Umstände und Folgen unserer Begegnung. Übrigens war das alles, jedenfalls von der einen Seite, höchst natürlich abgelaufen. Er befand sich auf dem Heimweg von seiner nächtlichen Beschäftigung (welcher Art, wird später erklärt), angetrunken, und war für einen Augenblick in der Gasse an dem Tor stehengeblieben, höchstens für eine Minute, und hatte mich dort entdeckt. In Petersburg war er erst seit wenigen Tagen.
Das Zimmer, in dem ich mich plötzlich fand, war ein mittelgroßes, dürftig möbliertes, gewöhnliches Petersburger chambre garni mittlerer Güte. Lambert selbst war übrigens hervorragend und teuer gekleidet. Auf dem Fußboden lagen zwei Koffer, die erst zur Hälfte ausgepackt waren. Eine Ecke des Zimmers war durch einen Wandschirm abgeteilt, der das Bett verdeckte.
»Alphonsine!« rief Lambert.
» Présente !« antwortete hinter dem Schirm eine scheppernde Frauenstimme mit Pariser Akzent, und nach höchstens zwei Minuten sprang Mademoiselle Alphonsine hervor, die sich eilig etwas übergeworfen hatte, ein Negligé, gerade aus dem Bett – ein wunderliches weibliches Wesen, lang und hager wie ein Span, brünett, mit langer Taille, langem Gesicht, unstetem Blick und eingefallenen Wangen – ein schrecklich verlebtes Wesen!
»Schneller!« (Ich übersetze, er sprach französisch mit ihr.) »Bei den Leuten unten muß bereits der Samowar kochen; schnell, kochendes Wasser, Rotwein und Zucker, ein Glas hierher, schneller, er ist erfroren, er ist mein Freund … er hat die ganze Nacht im Schnee geschlafen.«
» Malheureux !« rief sie sofort aus und schlug mit einer theatralischen Geste die Hände zusammen.
»Non-non!« schrie Lambert sie an, wie einen Hund, und drohte ihr mit dem Finger; sie unterließ alle Gesten und lief hinaus, um dem Befehl nachzukommen.
Er hat mich untersucht und abgetastet; er fühlte mir den Puls, tastete Stirn und Schläfen ab. »Sonderbar«, murmelte er, »wieso du nicht erfroren bist … übrigens warst du ganz in Pelz gehüllt, mit dem Kopf, du saßest da wie in einer Pelzhöhle …«
Das heiße Glas erschien, ich leerte es gierig und fühlte mich sogleich neu belebt; ich fing wieder an zu erzählen; in einer Diwanecke halb liegend, unaufhörlich – ich verschluckte mich förmlich beim Reden –, aber was ich eigentlich redete und wie ich erzählte, davon weiß ich fast gar nichts; einzelne Momente, auch ganze Partien habe ich völlig vergessen. Ich wiederhole: Ob er damals aus meinen Erzählungen irgend etwas verstanden hat – das kann ich nicht sagen;
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