Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
vielleicht sündig ist.«
»Wieso denn sündig?«
»Weil er ein Traum ist, dieser Gedanke, ein Traum, ein Starez aber würdevoll von dieser Welt scheiden soll. Wiederum, wenn man dem Tod mit Murren oder mit Verdruß entgegentritt, so ist auch dies wiederum eine große Sünde. Nun, wenn aber jemand das Leben heiteren Geistes liebgewonnen hat, so wird der Herr es ihm schon verzeihen, und sei er auch ein Greis. Es fällt dem Menschen schwer, von jeder Sünde zu wissen, was sündig ist oder nicht: Ein Geheimnis ist es, das über Menschenverstand geht. Ein Starez aber muß allzeit und immer zufrieden sein, und wenn’s ans Sterben geht, die volle Klarheit seines Verstandes behalten, selig und würdevoll, gesättigt von den Tagen, seiner letzten Stunde harren und voll der Freude wie die Ähre, die in die Garbe eingeht, sein Geheimnis erfüllen.«
»Sie reden immer wieder vom ›Geheimnis‹, was heißt das, ›sein Geheimnis erfüllen‹?« fragte ich und schielte nach der Tür. Ich war froh, daß wir allein waren und daß um uns lautlose Stille herrschte. Die untergehende Sonne schien grell durchs Fenster hinein. Er drückte sich etwas hochtrabend und ungenau aus, aber vollkommen aufrichtig und irgendwie besonders erregt, als freute er sich wirklich, daß ich gekommen war. Aber es war mir auch nicht entgangen, daß er zweifellos Fieber hatte, vielleicht sogar sehr hohes. Ich war auch krank und hatte auch Fieber, jedenfalls seit dem Augenblick, da ich bei ihm eingetreten war.
»Was Geheimnis heißt? Alles ist ein Geheimnis, Freund, in allem ist das Geheimnis Gottes eingeschlossen. In jedem Baum, in jedem Halm. Ob ein Vögelchen singt, ob die Sterne in voller Zahl nächtens am Himmel funkeln – alles ist ein einziges Geheimnis, in allem dasselbe. Und das höchste Geheimnis ist das, was die Seele des Menschen im Jenseits erwartet. So ist es, Freund!«
»Ich weiß nicht, in welchem Sinne Sie … Ich möchte Sie natürlich nicht necken, und Sie dürfen mir glauben, daß ich an Gott glaube; aber all diese Geheimnisse hat der Verstand schon längst enträtselt, und was noch nicht enträtselt ist, wird eines Tages vollständig enträtselt werden, ganz gewiß, vielleicht schon in nicht allzulanger Zeit. Die Botanik weiß schon genau, wie ein Baum wächst, Physiologe und Anatom wissen sogar, warum ein Vogel singt, oder werden es bald wissen, und was die Sterne angeht, so sind sie nicht nur alle gezählt, sondern auch ihre Bewegungen sind auf die Minute genau berechnet, so daß man das Erscheinen eines Kometen in tausend Jahren auf die Minute genau voraussagen kann … und jetzt ist sogar die Beschaffenheit der entferntesten Sterne bekannt. Nehmen Sie doch ein Mikroskop – so heißt ein Glas, das die Objekte millionenfach vergrößert – und betrachten Sie einen Wassertropfen, und Sie sehen eine ganz neue Welt, eine ganze Welt von neuen Lebewesen, und das war doch auch ein Geheimnis, aber nun ist es enträtselt.«
»Hab schon davon gehört, mein Lieber, hab schon mehrmals andere davon reden hören. Dagegen ist nichts zu sagen. Da ist was Großes und Ruhmreiches geschehen; alles ist nach Gottes Willen dem Menschen anvertraut; eben deswegen hat Gott ihm den Odem des Lebens eingehaucht: ›Lebe und erkenne.‹«
»Damit ist alles und nichts gesagt. Sie sind doch – kein Gegner der Wissenschaft, kein Klerikaler? Das heißt, ich bin nicht ganz sicher, ob Sie das verstehen …«
»Nein, Freund, ich habe von Jugend an die Wissenschaft hoch geachtet, und obwohl ich selbst ihrer nicht teilhaftig bin, hadere ich nicht mit ihr: Wenn nicht mir, so ist anderen etwas davon zuteil geworden. Es ist vielleicht auch besser so, jedem das Seine. Zumal die Wissenschaft, lieber Freund, auch nicht für jeden von Nutzen ist. Denn alle sind unmäßig, und jeder möchte das ganze Weltall in Erstaunen versetzen, und ich vielleicht noch ärger als alle anderen, wenn ich die Fertigkeit dazu hätte. Aber jetzt, da ich so gar keine Fertigkeit habe, wie kann ich überheblich sein, wo ich selbst so gar nichts weiß? Du aber bist jung und gewitzt, dir ist das Los zugefallen, also lerne du auch. Trachte danach, alles zu erkennen, damit du, wenn du einem Gottlosen oder Mutwilligen begegnest, ihm keine Antwort schuldig bleibst und er dich nicht mit losen Reden überfährt und deine unreifen Ansichten über den Haufen wirft. Und ein solches Glas habe ich vor gar nicht langer Zeit gesehen.«
Er schöpfte Atem und seufzte. Es war nicht zu übersehen,
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