Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
möchte nur erwähnen, daß dieser Umstand Lamberts Überzeugung von der tatsächlichen Existenz und vor allem vom Wert dieses Dokuments wesentlich bestätigte. (Es war ein verhängnisvoller Umstand, das möchte ich vorwegnehmen, den ich mir auf gar keine Weise vorstellen konnte, weder damals noch bis zum Ende der ganzen Geschichte, als alles plötzlich zusammenbrach und sich von selbst erklärte.) Also, von dem Wichtigsten überzeugt, tat er den ersten Schritt und fuhr zu Anna Andrejewna.
Inzwischen blieb für mich bis auf den heutigen Tag das Rätsel: Wie konnte er, Lambert, alle Filter passieren und sich an einer so unzugänglichen und höheren Person wie Anna Andrejewna festsaugen? Stimmt, er hatte Auskünfte, aber was folgt daraus? Stimmt, er war tadellos gekleidet, sprach wie ein Pariser und trug einen französischen Namen, aber wie sollte Anna Andrejewna auf den ersten Blick den Spitzbuben in ihm übersehen? Oder muß man annehmen, daß sie damals gerade auf einen Spitzbuben angewiesen war? Aber war das denn möglich?
Es ist mir nicht gelungen, Einzelheiten ihres Zusammentreffens zu erfahren, aber ich habe mir mehrmals diese Szene ausgemalt. Am wahrscheinlichsten hat Lambert vom ersten Wort und von der ersten Geste an vor ihr meinen Jugendfreund gespielt, der um seinen reizenden Lieblingsfreund zittert. Aber natürlich hat er sich gleich beim ersten Zusammentreffen auch eine unmißverständliche Andeutung auf das »Dokument« erlaubt und ebenfalls darauf, daß es in meinem Besitz und ein Geheimnis sei, zu dem nur er, Lambert, Zugang habe, daß ich im Begriff sei, mit diesem Dokument an der Generalin Achmakowa Rache zu nehmen und so weiter und so weiter. Vor allem muß es ihm gelungen sein, ihr möglichst präzise die Bedeutung und den Wert dieses Papiers klarzumachen. Was Anna Andrejewna anbelangt, so befand sie sich damals gerade in einer solchen Lage, daß sie nicht anders konnte, als sich an eine Nachricht dieser Art zu klammern, sie konnte nicht anders, als ihm mit außerordentlicher Aufmerksamkeit lauschen und … und konnte nicht anders, als auf diesen Köder anbeißen – im »Kampf ums Dasein«. Man hatte gerade ihren Bräutigam entführt und ihn in Zarskoje unter Aufsicht gestellt, und auch sie selbst befand sich unter Aufsicht. Und plötzlich ein solcher Fund: Hier geht es nicht mehr um weibisches Geflüster, nicht mehr um tränenreiche Klagen, nicht um üble Nachrede und Klatsch, hier geht es um einen Brief, eine Handschrift, das heißt, um den mathematischen Beweis für die tückischen Absichten seiner Tochter und all derer, die ihn ihr entreißen wollen, und jetzt geht es um seine Rettung, wenn auch durch Flucht, und zwar zu ihr, immer zu derselben Anna Andrejewna, mit der er binnen der nächsten vierundzwanzig Stunden sich trauen lassen müßte; andernfalls würde man ihn einziehen und ins Irrenhaus stecken.
Vielleicht ist es auch anders gewesen, nämlich, daß Lambert mit dieser jungen Dame nicht großes Aufheben machte, nicht einmal eine Minute lang, sondern gleich mit dem ersten Wort unverblümt zur Sache kam: »Mademoiselle, entweder bleiben Sie als alte Jungfer sitzen, oder Sie werden Fürstin und Millionärin: Es existiert ein Dokument, das ich dem grünen Jungen entwenden und Ihnen übergeben werde … gegen einen Wechsel über dreißigtausend Ihrerseits.« Ich glaube sogar, daß es gerade so gewesen sein muß. Oh, er hielt alle Menschen für ebensolche Schurken, wie er selber einer war; ich wiederhole, er war ein einfältiger Schurke, ein naiver Schurke … So oder so, es ist durchaus möglich, daß auch Anna Andrejewna angesichts einer solchen Attacke keinen Augenblick die Fassung verloren, die Contenance behalten und den Erpresser, der seinen eigenen Stil sprach, ungerührt angehört hat – und das alles aus »Weite«. Nun, natürlich wäre sie anfangs leicht errötet, hätte sich dann aber gefangen und zugehört. Und wenn ich mir dieses unberührbare, stolze, wirklich würdevolle junge Mädchen vorstelle, mit einem solchen Verstand, und Hand in Hand mit einem Lambert, dann … ja, ja, das ist es, mit einem solchen Verstand! Der russische Verstand, von solchem Ausmaß, liebt die Weite; zumal der weibliche, zumal unter solchen Umständen!
Und nun das Resümee: Bis zu dem Tag und zu der Stunde meines ersten Ausgehens nach der Krankheit hatten sich für Lambert die zwei folgenden Möglichkeiten abgezeichnet (heute weiß ich das ganz sicher): Die erste, von Anna Andrejewna für
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