Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
und edlen Gefühle nicht glaubte, er hatte sogar womöglich gar keine Vorstellung davon.
Er hatte sich nach Petersburg begeben, weil er schon seit langem an Petersburg als ein weiteres Wirkungsfeld als Moskau gedacht hatte, ferner deswegen, weil er in Moskau irgendwo und irgendwie in eine dumme Geschichte verwickelt war und jemand ihm mit den für seine Person übelsten Absichten auf der Spur war. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sofort Verbindung mit einem früheren Kumpan aufgenommen, fand aber nur ein karges Wirkungsfeld und unbedeutende Geschäfte vor. Sein Bekanntenkreis wurde mit der Zeit etwas größer, aber etwas Konkretes kam nicht zustande. »Das hiesige Volk ist ein Lumpenpack, lauter Schuljungen«, hat er mir später selbst gesagt. Und da, eines schönen Morgens, in der Dämmerung, findet er plötzlich mich halb erfroren unter einer Mauer und glaubt, dabei unmittelbar auf eine »Goldader« zu stoßen.
Die ganze Sache ging auf mein Geschwätz zurück, als ich damals bei ihm in der Wohnung auftaute. Oh, ich habe damals wie im Fieber phantasiert! Aber meinen Reden war immerhin deutlich zu entnehmen, daß ich von allen meinen Kränkungen jenes verhängnisvollen Tages am schlimmsten die Kränkung durch Bjoring und durch sie empfunden und in meinem Herzen bewahrt hatte: Sonst hätte ich bei Lambert nicht nur davon phantasiert, sondern zum Beispiel auch von Serschtschikow; indessen ging es mir immer um das erste, wie ich später von Lambert erfuhr. Außerdem war ich euphorisch und sah in Lambert und auch in Alphonsina an diesem schrecklichen Vormittag meine Befreier und Retter. Später, auf dem Weg der Genesung, noch im Bett, versuchte ich, mir vorzustellen: Was mochte Lambert meiner Suada entnommen haben, und wieweit hatte ich mich verraten? – und es hatte sich in mir kein einziges Mal auch nur der leiseste Verdacht geregt, daß er damals so viel erfahren hatte! Oh, natürlich, nach meinen Gewissensbissen zu urteilen, muß ich auch schon damals den Verdacht gehabt haben, daß ich viel Überflüssiges dahergeschwatzt hatte, aber, ich wiederhole es, ich konnte unmöglich auch nur vermuten, daß ich so weit gegangen war! Ich hoffte außerdem und rechnete sogar damit, daß ich damals bei ihm außerstande gewesen wäre, die Worte zu artikulieren, woran ich mich gut erinnern konnte, inzwischen aber stellte es sich heraus, daß ich damals viel deutlicher gesprochen hatte, als ich später annahm und auch hoffte. Aber die Hauptsache war, daß dies alles sich erst im nachhinein, nach langer Zeit, herausstellte und gerade darin mein Unglück beschlossen war.
Aus meinen Fieberphantasien, aus dem Redeschwall, aus der Verzückung und ähnlichem hatte er erstens fast alle Namen und sogar einige Adressen genauestens erfahren. Zweitens: Er hatte sich eine ziemlich genaue Vorstellung von der Bedeutung verschiedener Personen (des alten Fürsten, Bjorings, Anna Andrejewnas und sogar Werssilows) gebildet; drittens: Er hatte erfahren, daß ich beleidigt bin und nach Rache dürste, und schließlich, viertens, besonders wichtig: Er erfuhr von der Existenz eines Dokuments, eines geheimnisvollen, gutversteckten Briefes, den man dem halbverrückten alten Fürsten nur zu zeigen brauchte, damit er lese und erfahre, daß seine eigene Tochter ihn für verrückt hielt und bereits »einen Juristen konsultiert hat«, wie man ihn entmündigen könnte – und der darauf entweder den Verstand endgültig verliert oder sie aus dem Haus wirft und enterbt, oder eine gewisse Mademoiselle Werssilowa ehelicht, die zu heiraten ihm einstweilen nicht erlaubt wird, wiewohl er sie furchtbar gern heiraten wollte. Mit einem Wort, Lambert hatte sehr viel verstanden; zweifellos war immer noch sehr viel dunkel geblieben, aber der Erpressungsvirtuose hatte dennoch die richtige Fährte aufgenommen. Als ich später vor Alphonsina geflohen war, hatte er sich unverzüglich nach meiner Adresse erkundigt (auf die allereinfachste Art: im Adreßbüro) und dann ebenso unverzüglich die nötigen Auskünfte eingeholt, die ihm bestätigten, daß alle Personen, die ich erwähnt hatte, tatsächlich existieren. Und dann ging er zu Werke und tat den ersten Schritt.
Das Wichtigste bestand darin, daß ein Dokument existierte und daß dessen Besitzer – ich war, und daß dieses Dokument einen unermeßlichen Wert besaß; daran hegte Lambert keinen Zweifel. Hier übergehe ich einen Umstand, von dem besser später und an rechter Stelle zu sprechen sein wird, ich
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