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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Jene Szene bei Mama, jene gespaltene Ikone sind unbestritten das Werk des wirklichen Doppelgängers gewesen, aber mir war es immer so vorgekommen, als handelte es sich dabei um eine gewisse schadenfrohe Allegorie, so etwas wie Haß, als Antwort auf ihre Erwartungen, eine gewisse Bosheit angesichts ihrer Rechte und ihres Richtens, und da hatten er und der Doppelgänger, halb und halb, diese Ikone zerschlagen! “So werden auch eure Erwartungen entzweigehen!” Mit einem Wort, selbst wenn ein Doppelgänger dabeigewesen wäre, so war es doch auch einfacher Übermut … Aber all dies – nur meine Vermutung; eine wirkliche Entscheidung – ist sehr schwer.
    Freilich, ungeachtet der Anbetung Katerina Nikolajewnas, wurzelte in ihm das aufrichtigste und tiefste Mißtrauen gegen ihre moralischen Vorzüge. Ich bin überzeugt, daß er damals hinter der Tür auf ihre Erniedrigung vor Lambert geradezu gewartet hat. Aber ob er sie wünschte, auch wenn er auf sie gewartet hat? Ich wiederhole dennoch: Ich glaube fest, daß er damals gar nichts wollte und sogar nicht einmal überlegte. Er wünschte einfach dabeizusein, nachher zu erscheinen, ihr etwas zu sagen und vielleicht – vielleicht auch, sie zu beleidigen, vielleicht auch, sie zu töten … Alles hätte damals geschehen können; nur wußte er, als er mit Lambert kam, gar nichts von dem, was geschehen könnte. Ich füge hinzu, daß der Revolver Lambert gehörte und er unbewaffnet war. Angesichts ihrer stolzen Würde und vor allem außerstande, den Schurken Lambert, der sie bedrohte, länger zu ertragen, sprang er aus seinem Versteck heraus – und verlor darauf seinen Verstand. Wollte er sie in diesem Augenblick erschießen? Meiner Ansicht nach hat er es selbst nicht gewußt, hätte sie aber bestimmt erschossen, wenn wir seinen Arm nicht nach oben gestoßen hätten.
    Seine Wunde stellte sich als nicht lebensbedrohlich heraus und verheilte, aber er mußte ziemlich lange das Bett hüten – bei Mama, selbstverständlich. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist draußen Frühling, Mitte Mai, ein wunderschöner Tag, und bei uns stehen alle Fenster offen. Mama sitzt neben ihm; er fährt ihr mit der Hand über die Wangen und über das Haar und schaut ihr mit Rührung in die Augen. Oh, das ist nur die Hälfte des früheren Werssilow; von Mama geht er nicht mehr fort und wird niemals mehr von ihr fortgehen. Er hat sogar die »Gabe der Tränen« empfangen, wie es der unvergeßliche Makar Iwanowitsch in seiner Erzählung von dem Kaufmann ausgedrückt hat. Übrigens glaube ich, daß Werssilow lange leben wird. Mit uns ist er jetzt aufrichtig und offenherzig wie ein Kind, übrigens, ohne Maß und Selbstbeherrschung zu verlieren und ohne Überflüssiges zu reden. Sein ganzer Geist und seine ganze moralische Verfassung sind ihm geblieben, obwohl alles, was an ihm idealischer Natur war, noch stärker in den Vordergrund getreten ist. Ich sage offen, daß ich ihn noch nie so geliebt habe wie heute und daß ich bedaure, weder Zeit noch Platz für einen längeren Exkurs über ihn zur Verfügung zu haben. Übrigens möchte ich eine Anekdote von unlängst erzählen (es gibt deren mehrere): Zur Großen Fastenzeit war er bereits genesen, und in der sechsten Woche hatte er erklärt, auch er würde diesmal das Abendmahl feiern. Das hatte er, glaube ich, an die dreißig Jahre nicht mehr getan, oder noch länger. Mama war glücklich; man stellte sich auf Fastenspeisen ein, allerdings teure und raffinierte. Ich hörte aus dem Nebenzimmer, wie er am Montag und am Dienstag vor sich hin sang: »Siehe, der Bräutigam naht« – und wie er sich für die Worte und die Melodie begeisterte. In diesen zwei Tagen hatte er mehrmals sehr schön über Religion gesprochen; aber schon am Mittwoch brach er die Vorbereitungen plötzlich ab. Etwas hatte ihn plötzlich gereizt, irgendein »putziger Kontrast«, wie er lachend erzählte. Irgend etwas am Äußeren des Geistlichen, an den Umständen hatte ihm nicht gefallen; aber als er wieder zu Hause war, sagte er plötzlich mit einem stillen Lächeln: »Meine Freunde, ich liebe Gott sehr, aber für so etwas bin ich ungeeignet.« Am selben Tag gab es zum Mittagessen schon Roastbeef. Aber ich weiß, daß Mama auch heute noch oft neben ihm sitzt und mit leiser Stimme und stillem Lächeln sich mit ihm zuweilen über die abstraktesten Dinge unterhält: Jetzt hat sie plötzlich vor ihm irgendwie Mut gefaßt, aber wie das geschehen ist, kann ich nicht sagen. Sie sitzt

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