Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
dem Schuß ein, als Tatjana Pawlownas Wohnung schon einen ganz anderen Anblick bot. Nämlich: Etwa fünf Minuten nachdem Werssilow blutüberströmt auf den Teppich gesunken war, regte sich Lambert, den wir für tot gehalten hatten, und erhob sich. Er sah sich verwundert um, erfaßte plötzlich die Situation, ging wortlos in die Küche, zog dort seinen Pelz an und verschwand für immer. Das »Dokument« hatte er auf dem Tisch liegenlassen. Ich habe gehört, daß er nicht einmal krank, sondern nur ein wenig unpäßlich gewesen wäre; der Schlag mit dem Revolver hatte ihn betäubt und zu einem Blutverlust geführt, ohne irgendwelche ernsthaften Folgen zu hinterlassen. Inzwischen war Trischatow schon nach einem Arzt gelaufen; aber bevor der Arzt erschien, war auch Werssilow zu sich gekommen, und noch vor Werssilow Katerina Nikolajewna, mit Hilfe Tatjana Pawlownas, die sie schleunigst nach Hause gebracht hatte. Auf diese Weise befanden sich in Tatjana Pawlownas Wohnung, als Bjoring zu uns hereinstürzte, nur ich, der Arzt, der kranke Werssilow und Mama, die, immer noch selber krank, außer sich, zu ihm geeilt war, ebenfalls von Trischatow geholt. Bjoring sah sich verblüfft um und machte sich, sobald er hörte, Katerina Nikolajewna sei bereits weggefahren, sofort auf den Weg zu ihr, ohne auch nur ein Wort an uns gerichtet zu haben.
Er war verlegen; er sah deutlich, daß jetzt Skandal und Klatsch fast unvermeidlich waren. Zu einem großen Skandal ist es allerdings nicht gekommen, es blieb bei Gerüchten. Der Schuß ließ sich nicht verheimlichen – das stimmt; aber die Geschichte blieb in ihrem eigentlichen Kern so gut wie unbekannt; die Ermittlungen ergaben nur, ein gewisser W., ein über die Ohren verliebter Mann, dazu Familienvater und beinahe fünfzigjährig, habe im Anfall der Leidenschaft, als er einer die höchste Verehrung verdienenden Person seine Gefühle zu erklären versucht habe, diese Person jedoch diese nicht im mindesten zu teilen bereit war, in geistiger Umnachtung einen Revolverschuß auf sich selbst abgegeben. Mehr war nicht nach außen gedrungen, und diese Nachricht sickerte als dunkles Gerücht auch in die Presse, ohne Namensnennung, nur mit den Anfangsbuchstaben der Familiennamen. Ich weiß jedenfalls, daß Lambert zum Beispiel nicht belangt wurde. Nichtsdestoweniger bekam es Bjoring, der die Wahrheit kannte, mit der Angst zu tun. Und ausgerechnet da ergab es sich, daß er plötzlich von dem stattgefundenen Rendezvous Katerina Nikolajewnas mit dem in sie verliebten Werssilow erfuhr, unter vier Augen, zwei Tage vor jener Katastrophe. Er explodierte und erlaubte sich gegenüber Katerina Nikolajewna die ziemlich unbedachte Bemerkung, er wundere sich nun nicht mehr, daß mit ihr so phantastische Geschichten passierten. Da nahm Katerina Nikolajewna auf der Stelle ihr Wort zurück, ohne Zorn, aber auch ohne Schwanken. Alle ihre Spekulationen über eine Vernunftehe mit diesem Mann verflogen wie Rauch. Vielleicht hatte sie ihn schon lange vorher durchschaut, vielleicht aber hat die erfahrene Erschütterung einige ihrer Ansichten und Gefühle plötzlich verändert. Aber hier möchte ich wieder verstummen. Ich will nur hinzufügen, daß Lambert in Moskau untergetaucht ist, und habe gehört, daß er dort irgendeiner Affäre überführt wurde. Und Trischatow habe ich schon lange, seit damals, aus den Augen verloren, wie sehr ich mich auch heute noch bemühe, seine Spur wiederzuentdecken. Er ist nach dem Tod seines Freundes, »le grand dadais«, verschwunden: Dieser hat sich erschossen.
II
Ich habe den Tod des alten Fürsten Nikolaj Iwanowitsch bereits erwähnt. Dieser gütige, sympathische alte Herr verschied bald nach jenem Abenteuer, immerhin erst einen Monat später – er verschied nachts, in seinem Bett, an einem Nervenschlag. Ich habe ihn seit jenem Tag, den er in meiner Wohnung verbrachte, nie wiedergesehen. Es wurde erzählt, er habe sich in diesem Monat unvergleichlich vernünftiger verhalten, strenger sogar, furchtloser, habe nicht geweint und sogar während der ganzen Zeit kein einziges Wort über Anna Andrejewna verlauten lassen. Seine ganze Liebe galt seiner Tochter. Katerina Nikolajewna hat ihm irgendwann, eine Woche vor seinem Ableben, vorgeschlagen, mich holen zu lassen, zu seiner Zerstreuung, aber er runzelte sogar die Stirn: Dieses Faktum teile ich ohne jeden Kommentar mit. Sein Landbesitz fand sich in bester Ordnung, wie auch das sehr bedeutende Kapital. Fast ein Drittel des Kapitals
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