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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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sollte nach dem Willen des alten Herrn unter seine zahllosen Patentöchter verteilt werden; aber äußerst sonderbar fanden es alle, daß Anna Andrejewna in diesem Testament überhaupt nicht erwähnt wurde; ihr Name fehlte. Ich aber weiß aus absolut zuverlässiger Quelle: Nur wenige Tage vor seinem Verscheiden ließ der alte Herr seine Tochter und seine Freunde, Pelischtschews und den Fürsten W., kommen und wies Katerina Nikolajewna an, im Falle seines baldigen Ablebens aus diesem Kapital Anna Andrejewna sechzigtausend Rubel zu überstellen. Er hat seinen Willen exakt, deutlich und kurz geäußert, wobei er sich jeden Ausruf oder Kommentar versagte. Nach seinem Ableben, sobald alles Geschäftliche geklärt war, benachrichtigte Katerina Nikolajewna durch ihren Bevollmächtigten Anna Andrejewna, daß diese sechzigtausend ihr jederzeit zur Verfügung stünden; aber Anna Andrejewna wies das Angebot trocken und ohne überflüssige Worte zurück: Sie lehnte das Angebot ab, sie weigerte sich, das Geld anzunehmen, ungeachtet aller Versicherungen, daß dies wirklich der Wille des Fürsten sei. Das Geld liegt auch jetzt noch da und wartet auf sie, und Katerina Nikolajewna hofft auch jetzt noch, daß sie ihre Entscheidung ändert; aber dies wird nicht geschehen, das weiß ich ganz gewiß, weil ich jetzt – einer der nächsten Bekannten und Freunde Anna Andrejewnas bin. Ihre Ablehnung hat ein gewisses Aufsehen erregt, sie wurde ein allgemeines Gesprächsthema. Ihre Tante, eine Fanariotowa, die anfangs über ihren Skandal mit dem alten Fürsten verärgert war, änderte plötzlich ihre Meinung und verkündete nach der Ablehnung des Geldes feierlichst ihre Hochachtung. Dagegen hat sich ihr Bruder endgültig mit ihr überworfen. Aber obwohl ich Anna Andrejewna häufig besuche, kann ich nicht sagen, daß wir uns in großen Vertraulichkeiten ergingen; Vergangenes erwähnen wir überhaupt nicht; sie empfängt mich sehr gerne, unterhält sich aber mit mir irgendwie abstrakt. Unter anderem hat sie mir mit großer Festigkeit angekündigt, daß sie unbedingt ins Kloster gehen wolle; das geschah erst kürzlich; aber ich glaube ihr nicht und halte es für ein Zeichen der Verbitterung.
    Aber das Bittere, wirklich Bittere muß noch gesagt werden, es betrifft meine Schwester Lisa. Hier – hier ist wirkliches Unglück, was bedeuten schon alle meine Mißerfolge, gemessen an ihrem bitteren Los! Es begann damit, daß Fürst Sergej Petrowitsch nicht mehr gesund wurde und noch vor der Gerichtsverhandlung im Lazarett starb. Er verschied noch vor dem Fürsten Nikolaj Iwanowitsch. Lisa blieb allein zurück mit ihrem künftigen Kind. Sie weinte nicht und machte sogar einen ruhigen Eindruck; sie wirkte sanft und demütig; aber die einstige Glut ihres Herzens schien auf einmal sich ganz tief in ihr Inneres zurückgezogen zu haben. Sie ging demütig Mama zur Hand, pflegte den kranken Andrej Petrowitsch, wurde aber furchtbar wortkarg, hatte für niemand und für nichts auch nur einen Blick, als wäre ihr alles gleichgültig, als gehe sie an allem achtlos vorüber. Sobald es Werssilow besserging, begann sie, viel zu schlafen. Ich brachte ihr Bücher, aber sie las sie nicht; sie magerte furchtbar ab. Ich traute mich nicht, sie zu trösten, obwohl ich sehr oft gerade mit dieser Absicht kam; aber in ihrer Gegenwart fiel es mir schwer, eine Nähe zu ihr zu finden, und auch die richtigen Worte wollten sich bei mir nicht einstellen. Das währte bis zu einem furchtbaren Unfall: Sie stürzte von unserer Treppe, nicht aus großer Höhe, nur drei Stufen, erlitt aber eine Fehlgeburt und kränkelte fast den ganzen Winter. Jetzt hat sie das Bett schon verlassen, aber ihre Gesundheit wird lange Zeit angeschlagen bleiben. In unserer Gesellschaft ist sie immer noch schweigsam und nachdenklich, aber mit Mama beginnt sie wieder ein wenig zu sprechen. All diese letzten Tage hatten wir die helle, hohe Frühlingssonne, und ich erinnere mich immer wieder im stillen an jenen sonnigen Vormittag, als wir im vergangenen Herbst über die Straße gingen, beide voller Freude und Hoffnung und Liebe zueinander. Wehe, was war inzwischen nicht alles geschehen? Ich klage nicht, für mich hat das neue Leben begonnen, aber sie? Ihre Zukunft ist ein Rätsel, jetzt aber kann ich sie nicht ohne Schmerz ansehen.
    Vor etwa drei Wochen ist es mir jedoch gelungen, ihr Interesse durch eine Nachricht über Wassin zu wecken. Man hat ihn aus der Haft entlassen und endgültig auf freien Fuß gesetzt.

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