Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
neben ihm und spricht zu ihm meist flüsternd. Er hört ihr lächelnd zu, streicht ihr über das Haar, küßt ihre Hände, und das vollkommenste Glück leuchtet auf seinem Gesicht. Manchmal bekommt er Anfälle, beinahe hysterische Anfälle. Er nimmt dann ihre Photographie, dieselbe, die er an jenem Abend geküßt hatte, küßt sie, erinnert sich, ruft uns alle zu sich, spricht aber in solchen Minuten nur wenig … Katerina Nikolajewna scheint er völlig vergessen zu haben und hat ihren Namen kein einziges Mal erwähnt. Über eine Eheschließung mit Mama wurde bei uns auch noch nicht gesprochen. Im Sommer wollte man seinetwegen ins Ausland; aber Tatjana Pawlowna war strikt dagegen, und er selbst hat es abgelehnt. Den Sommer werden sie im Grünen verbringen, irgendwo auf dem Land im Petersburger Kreis. Apropos, wir alle leben einstweilen von Tatjana Pawlownas Geld. Und es sei hinzugefügt: Ich bedaure aufrichtig, daß ich zur Zeit dieser Aufzeichnungen mir oft erlaubt habe, diesen Menschen herablassend und ohne Achtung zu behandeln. Aber ich schrieb in einer übertrieben deutlichen Vorstellung von mir selbst, das heißt, davon, wie ich im jeweiligen Augenblick gewesen war. Am Ende meiner Aufzeichnungen, sobald die letzte Zeile geschrieben war, fühlte ich plötzlich, daß ich mich selbst umerzogen hatte, eben durch den Prozeß des Erinnerns und Niederschreibens. Manchem, was ich geschrieben habe, schwöre ich ab, besonders bedaure ich den Ton mancher Sätze und Seiten, aber ich werde kein einziges Wort streichen oder korrigieren.
Ich habe gesagt, daß er Katerina Nikolajewna mit keinem einzigen Wort erwähnt; ich glaube sogar, daß er vielleicht völlig geheilt ist. Über Katerina Nikolajewna sprechen hin und wieder nur ich und Tatjana Pawlowna, und zwar nur heimlich. Katerina Nikolajewna hält sich jetzt im Ausland auf; ich habe sie vor ihrer Abreise gesehen und bin ein paarmal bei ihr gewesen. Aus dem Ausland habe ich schon zwei Briefe von ihr erhalten und sie auch beantwortet. Aber über den Inhalt unserer Briefe und unserer Unterhaltung vor ihrer Reise, beim Abschied, möchte ich nichts sagen: Das ist schon eine andere Geschichte, eine völlig neue Geschichte, die vielleicht ganz und gar der Zukunft angehört. Sogar vor Tatjana Pawlowna schweige ich mich über gewisse Dinge aus; damit genug. Ich füge nur hinzu, daß Katerina Nikolajewna nicht verheiratet ist und mit Pelischtschews reist. Ihr Vater ist verstorben, und sie – die reichste aller Witwen. Gegenwärtig hält sie sich in Paris auf. Ihr Bruch mit Bjoring kam schnell und gleichsam von selbst, das heißt auf die natürlichste Weise. Das möchte ich übrigens erzählen.
Am Morgen jener schrecklichen Szene hatte der Pockennarbige, eben jener, zu dem Trischatow und sein Freund übergelaufen waren, Bjoring noch rechtzeitig von dem bevorstehenden Anschlag unterrichtet. Das geschah auf folgende Weise: Lambert war es gelungen, ihn zu gemeinsamem Handeln zu bewegen, indem er ihn, sobald er sich damals des Dokuments bemächtigt hatte, in sämtliche Details und alle Umstände des Unternehmens einweihte, schließlich auch in die letzte Version ihres Plans, das heißt Werssilows Kombination mit der Überrumpelung Tatjana Pawlownas. Aber im entscheidenden Augenblick hatte der Pockennarbige, als der Vernünftigste von der ganzen Gesellschaft, es vorgezogen, Lambert zu verraten, in der Voraussicht, daß ihre Projekte als kriminell eingestuft werden könnten. Vor allem: Er hielt die Dankbarkeit eines Bjoring für wesentlich aussichtsreicher als den phantastischen Plan des stümperhaften Hitzkopfs Lambert und des vor Leidenschaft beinahe unzurechnungsfähigen Werssilow. All das habe ich im nachhinein von Trischatow erfahren. Übrigens kenne und verstehe ich die Beziehungen Lamberts zu dem Pockennarbigen ebensowenig wie den Grund, warum Lambert auf ihn angewiesen war. Noch interessanter ist für mich die Frage: Wozu brauchte Lambert Werssilow, da Lambert, das Dokument bereits in der Tasche, ohne weiteres auf dessen Hilfe hätte verzichten können? Jetzt ist mir die Antwort klar: Er brauchte Werssilow erstens als erfahrenen Kenner der Umstände, und zweitens brauchte er Werssilow, um in einer kritischen Situation oder beim Mißlingen die gesamte Verantwortung auf ihn abzuwälzen. Und da Werssilow auch nicht an Geld interessiert war, hielt Lambert seine Hilfe keineswegs für entbehrlich. Aber Bjoring war damals nicht rechtzeitig zur Stelle. Er traf erst eine Stunde nach
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