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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Rücken, und seitdem habe ich ihn nie wiedergesehen. An diesem Abend war ich sehr erbost, am nächsten Tag schon nicht mehr so sehr, und am dritten hatte ich ihn völlig vergessen. Und dann, dann erinnerte ich mich gelegentlich an dieses Mädchen, aber nur zufällig und flüchtig. Erst nach meiner Ankunft in Petersburg, etwa zwei Wochen später, fiel mir plötzlich diese ganze Szene ein – sie fiel mir ein, und plötzlich mußte ich mich schämen, so sehr schämen, daß mir buchstäblich die Tränen die Wangen herunterliefen. Ich quälte mich den ganzen Abend, die ganze Nacht hindurch und quäle mich noch heute. Ich konnte zunächst nicht begreifen, wie ich so tief und so schmählich hatte fallen können, und vor allem, wie ich diesen Vorfall vergessen, mich seiner nicht schämen und ihn nicht bereuen konnte. Jetzt erst sehe ich ein, woran das lag: Es lag an der »Idee«. Kurz gesagt, ich ziehe heute den Schluß, daß man, sobald der Kopf mit etwas Unverrückbarem, Ständigem, Starkem ausgefüllt und beschäftigt ist, sich dadurch vor der ganzen Welt in die Einöde zurückzieht und alles, was sich in unmittelbarer Nähe ereignet, nur flüchtig wahrnimmt, ohne die Hauptsache aus dem Blick zu verlieren. Die Eindrücke werden sogar falsch interpretiert. Außerdem, und das ist sehr wesentlich, hat man immer eine Ausrede zur Hand. Wie sehr habe ich damals meine Mutter gequält, wie schändlich habe ich meine Schwester im Stich gelassen: »Ach was, ich habe die ›Idee‹, und das sind alles Lappalien.« So redete ich mir ein. Ich wurde beleidigt, und zwar empfindlich – ich zog mich gekränkt zurück und sagte mir plötzlich: »Ich bin zwar erniedrigt worden, aber ich habe dennoch die ›Idee‹, und die wissen das nicht.« Die »Idee« war Trost in Schmach und Nichtigkeit; aber auch alles Abscheuliche in mir verkroch sich gleichsam hinter die »Idee«; sie machte sozusagen alles leichter, hüllte aber ebenso alles vor mir in einen Nebel; und eine solch verschwommene Auffassung von Ereignissen und Dingen kann selbstverständlich sogar der »Idee« selbst schaden, von allem anderen ganz zu schweigen.
    Und nun die zweite Anekdote.
    Marja Iwanowna feierte am ersten April des vergangenen Jahres ihren Namenstag. Gegen Abend fanden sich einige Gäste ein, nur sehr wenige. Plötzlich stürzt Agrafena herein, ganz außer Atem, und erklärt, daß im Flur, vor der Küche, ein ausgesetztes Kind quäke und daß sie selbst sich nicht zu helfen wisse. Die Nachricht löste allgemeine Erregung aus, alle gingen hin und sahen einen Spankorb, und in dem Spankorb ein drei bis vier Wochen altes quäkendes Mädchen. Ich hob den Spankorb auf, brachte ihn in die Küche und entdeckte sofort einen zusammengefalteten Zettel: »Liebe Wohltäter, erweist Eure wohltätige Hilfe dem getauften Mädchen Arina, und wir werden mit ihr immerdar unsere tränenreichen Bitten für Euch zum Thron unseres Herrn emporsenden und wünschen Euch an Eurem Namenstag Gottes Segen. Euch unbekannte Menschen.« Da bereitete der von mir über alles geachtete Nikolaj Semjonowitsch mir einen großen Kummer: Mit einem sehr ernsten Gesicht entschied er, das Mädchen unverzüglich in ein Findelhaus zu bringen. Ich fand das sehr traurig. Sie lebten sehr bescheiden, aber sie hatten keine Kinder, worüber sich Nikolaj Semjonowitsch stets sehr erleichtert zeigte. Ich holte vorsichtig Arinotschka aus dem Spankorb und hob sie an den kleinen Schultern hoch; aus dem Spankorb stieg ein säuerlicher und scharfer Geruch auf, wie stets von lange nicht gebadeten Säuglingen. Nach einem Wortwechsel mit Nikolaj Semjonowitsch erklärte ich ihm plötzlich, ich würde für das Kind aufkommen. Er brachte mehrere Einwände vor, nicht ohne Strenge, ungeachtet seiner sonstigen Umgänglichkeit, und obwohl er auch mit einem Scherz endete, blieb seine Weisung mit dem Findelhaus in Kraft. Dennoch geschah alles Weitere nach meinem Willen: Auf demselben Hof, nur in einem anderen Hinterhaus, wohnte ein sehr armer Tischler, ein bereits älterer Mann und Trinker; aber seine Frau, keineswegs alt und von blühender Gesundheit, hatte soeben ein Kind verloren, einen Säugling, und vor allem das einzige, nach acht Jahren kinderloser Ehe geborene Kind, auch ein Mädchen und, ein eigentümlicher Glücksfall, auch eine Arinotschka. Ich sage Glücksfall, weil die Frau, sobald sie uns in der Küche streiten hörte, sofort neugierig gelaufen kam und, als sie erfuhr, daß es ebenfalls eine Arinotschka sei, tief

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