Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
gerührt war. Die Milch war noch nicht versiegt, sie knöpfte das Kleid auf und legte das Kind an. Ich klammerte mich förmlich an sie und bettelte und flehte sie an, das Kind gegen eine monatliche, von mir auszuzahlende Vergütung bei sich aufzunehmen. Sie fürchtete, ihr Mann könne es ihr verbieten, nahm aber die Kleine für eine Nacht zu sich. Am nächsten Morgen gestattete es der Mann für acht Rubel monatlich, und ich zahlte ihm für den ersten Monat im voraus; er vertrank das Geld sofort. Nikolaj Semjonowitsch war bereit, immer noch sonderbar lächelnd, sich bei dem Tischler zu verbürgen, daß der Betrag, acht Rubel monatlich, von mir regelmäßig ausgezahlt würde. Ich wollte schon Nikolaj Semjonowitsch meine sechzig Rubel als Garantie aushändigen, aber er nahm sie nicht an; übrigens wußte er, daß ich Geld hatte, und er vertraute mir. Sein Taktgefühl löschte die Spur unseres kurzen Streites aus. Marja Iwanowna sagte nichts, wunderte sich aber, daß ich eine solche Belastung auf mich nähme. Ich schätzte das Taktgefühl beider, da sie sich nicht den leisesten Scherz mir gegenüber erlaubten, sondern, im Gegenteil, sich bei der Angelegenheit so ernst verhielten, wie es angebracht war. Ich schaute jeden Tag bei Darja Rodionowna kurz vorbei, dreimal, und steckte ihr eine Woche später unter vier Augen, direkt in die Hand, heimlich vor ihrem Mann, noch drei Rubel zu. Für weitere drei Rubel erstand ich eine kleine Decke und Windeln. Aber nach zehn Tagen wurde Arinotschka plötzlich krank. Ich holte sofort einen Arzt, er verschrieb ihr etwas, und wir wachten die ganze Nacht bei ihr, um die arme Kleine mit seiner ekelhaften Medizin zu quälen, aber am nächsten Tag erklärte er uns, es sei zu spät und wich meinen Bitten – ich glaube sogar, Vorwürfen – mit vornehmer Zurückhaltung aus: »Ich bin kein Gott.« Das Züngelchen, die Lippen, das ganze Mündchen der Kleinen überzog ein feiner weißer Ausschlag, und schon gegen Abend starb sie, die großen schwarzen Augen auf mich gerichtet, als verstünde sie schon alles. Ich kann nicht begreifen, warum ich nicht auf den Gedanken kam, von ihr, der Kleinen, eine Photographie zu machen. Wird man mir glauben, daß ich an jenem Abend nicht nur weinte, sondern einfach heulte, was ich mir früher niemals erlaubt hatte, und Marja Iwanowna mir gut zureden mußte – und das wiederum ohne den leisesten Spott, weder von ihrer noch von seiner Seite. Der Tischler fertigte den kleinen Sarg an; Marja Iwanowna schmückte ihn mit einer Rüsche und legte ein hübsches kleines Kissen hinein, ich kaufte Blumen und streute sie über das Kindchen: So brachte man mein armes Grashälmchen, das ich, ob man es glaubt oder nicht, bis heute nicht vergessen kann, auf den Friedhof. Es dauerte jedoch gar nicht lange, bis dieses nahezu blitzartige Abenteuer mir sogar sehr viel zu denken gab. Natürlich kam es mich nicht sonderlich teuer – alles in allem: Der kleine Sarg, die Beerdigung, der Arzt, die Blumen und das Geld für Darja Rodionowna – insgesamt dreißig Rubel. Diese Summe habe ich vor der Abreise nach Petersburg durch die mir von Werssilow zugeschickten Reisekosten von vierzig Rubeln und den Erlös für einige verkaufte Kleinigkeiten vor meinem Aufbruch ersetzt, so daß mein ganzes »Kapital« nach wie vor unangetastet blieb. “Aber”, dachte ich, “wenn ich immer wieder von dem Weg abkomme, werde ich es nicht weit bringen.” Aus der Geschichte mit dem Studenten hätte man den Schluß ziehen können, daß eine »Idee« so fasziniert, daß sie von der gegenwärtigen Wirklichkeit ablenkt und die realen Eindrücke verschwimmen läßt. Aus der Geschichte mit Rinotschka hätte man den umgekehrten Schluß ziehen können, daß keine »Idee« faszinierend genug ist (für meinen Teil jedenfalls), um nicht plötzlich von einer übermächtigen Tatsache aufgehalten zu werden und ihr nicht alles zu opfern, was durch jahrelanges Mühen für diese »Idee« erreicht wurde. Und beide Schlüsse wären zutreffend.
Sechstes Kapitel
I
Meine Hoffnungen sollten nicht restlos in Erfüllung gehen – ich traf sie zu Hause nicht alleine an: Wenn auch Werssilow nicht da war, saß doch bei meiner Mutter Tatjana Pawlowna – ein immerhin fremder Mensch. Die Hälfte meiner großmütigen Stimmung war mit einem Schlag verflogen. Es ist erstaunlich, wie schnell und reizbar ich in solchen Fällen reagiere; ein Sandkörnchen und ein Härchen genügen schon, um meine gute Laune in eine schlechte
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