Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Koteletts laß ich jetzt …« Sie wollte schon eilig aufspringen, um in die Küche zu gehen, und vielleicht zum ersten Mal in diesem ganzen Monat schämte ich mich plötzlich, daß sie sich eigentlich viel zu sehr beeilte, mich zu bedienen, während ich es bis dahin selbst verlangt hatte.
»Ergebensten Dank, Mama, ich habe schon gegessen. Wenn ich nicht störe, möchte ich mich hier ein wenig ausruhen.«
»Ach … aber wieso … natürlich, bleib …«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mama, ich werde zu Andrej Petrowitsch nicht mehr grob sein«, platzte ich auf einmal heraus …
»O Gott, der ist aber großmütig!« rief Tatjana Pawlowna. »Sonja, meine Liebe, redest du ihn eigentlich immer noch mit Sie an? Aber wer ist er denn, daß ihm solche Ehre erwiesen wird, und noch dazu von seiner Mutter! Siehst du, du wirst ja vor ihm ganz verlegen, das ist ja eine Schande!«
»Ich fände es selbst sehr angenehm, Mama, wenn Sie mich duzen würden.«
»Ach … Nun, also gut, ich werde es tun«, stotterte meine Mutter, »ich … ich hab doch nicht immer so … also gut, von jetzt an werde ich es tun.«
Sie errötete tief. Wirklich, ihr Gesicht war gelegentlich außerordentlich anziehend … Ihr Gesicht hatte etwas Treuherziges, aber keineswegs Einfältiges, es war ein wenig blaß und blutarm. Ihre Wangen waren sehr mager, sogar eingefallen, auf der Stirn hatten sich unübersehbare Fältchen gesammelt, aber um die Augen zeigten sie sich noch nicht, und die Augen, ziemlich groß und offen, strahlten stets in einem stillen und ruhigen Licht, das mich vom ersten Tag an angezogen hatte. Ich mochte es ebenfalls, daß in ihrem Gesicht gar nichts Trauriges oder Verklemmtes lag; im Gegenteil, sein Ausdruck wäre sogar fröhlich gewesen, wenn sie sich nicht so oft aufgeregt hätte; manchmal völlig grundlos, erschrocken von ihrem Platz auffahrend, wegen nichts und wieder nichts, oder während sie verängstigt in einer Unterhaltung etwas Neues hörte und noch nicht sicher war, daß alles so bliebe wie früher. Daß alles gut sei, bedeutete für sie nämlich dasselbe wie »alles wie früher«. Nur keine Veränderung, nur nichts Neues, selbst wenn es etwas Glückliches wäre …! Man konnte vermuten, daß man sie in ihrer Kindheit einmal furchtbar erschreckt hatte. Außer ihren Augen gefiel mir das Oval ihres länglichen Gesichts, und wenn ihre Backenknochen auch nur eine Spur weniger breit gewesen wären, so hätte man sie, wie ich glaube, nicht nur in ihrer Jugend, sondern sogar auch jetzt noch eine Schönheit nennen können. Jetzt war sie wohl noch nicht älter als neununddreißig, aber in ihrem dunkelblonden Haar schimmerten schon viele silberne Fäden.
Tatjana Pawlowna warf ihr einen entrüsteten Blick zu.
»Dieser Kindskopf! Und vor dem zitterst du! Du bist komisch, Sofja, du ärgerst mich, so ist das!«
»Ach, Tatjana Pawlowna, warum gehen Sie jetzt so mit ihm um! Oder machen Sie Spaß?« fragte meine Mutter, als sie so etwas sie ein Lächeln auf dem Gesicht Tatjana Pawlownas entdeckte. Man konnte Tatjana Pawlownas Schimpfkanonaden in der Tat mitunter nicht ernst nehmen, jetzt aber hatte sie natürlich nur über meine Mutter gelächelt (wenn sie überhaupt gelächelt hatte), die sie um ihres guten Herzens willen sehr liebte, und zweifellos bemerkt, wie glücklich sie in diesem Augenblick über meine Friedfertigkeit war.
»Ich kann natürlich nicht unempfindlich bleiben, wenn Sie als erste über die Leute herfallen, Tatjana Pawlowna, gerade dann, wenn ich beim Eintreten ›Guten Tag, Mama‹ sage, was ich früher nie getan habe.« Schließlich hielt ich eine kleine Zurechtweisung für unbedingt nötig.
»Man stelle sich nur vor«, sie brauste sofort auf, »er hält so etwas für eine Heldentat! Soll man etwa vor dir kniefällig werden, weil du dich einmal im Leben höflich gezeigt hast? Und was ist das schon für eine Höflichkeit? Warum starrst du in die Ecke, wenn du hereinkommst? Glaubst du, daß ich nicht weiß, daß du dich vor ihr aufspielst? Übrigens hättest du auch mich ruhig grüßen können, ich habe dich schließlich gewickelt und bin deine Patin.«
Es versteht sich von selbst, daß ich auf eine Antwort verzichtete. Fast im selben Augenblick trat meine Schwester herein, und ich wandte mich eilig an sie:
»Lisa, ich habe heute Wassin gesehen, und er hat sich nach dir erkundigt. Du kennst ihn?«
»Ja, seit Luga, im vergangenen Jahr«, antwortete sie völlig selbstverständlich, setzte sich neben
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