Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
lustig machte. Keinen Zweifel, diese dumme Anekdote ist kaum wert, erzählt zu werden, und es ist sogar besser, sie wäre ungekannt untergegangen; außerdem ist sie abstoßend kleinlich und überflüssig, wiewohl sie ziemlich ernste Folgen nach sich zog.
Aber um mich selbst noch empfindlicher zu bestrafen, werde ich sie zu Ende erzählen. Als mir klar wurde, daß Jefim sich über mich lustig machte, wagte ich es, ihm mit der Rechten einen Schlag gegen die Schulter zu versetzen, genau gesagt, mit der rechten Faust. Darauf packte er mich bei den Schultern, drehte mich um, mit dem Gesicht zur Tür und – bewies mir an Ort und Stelle, daß er tatsächlich der Stärkste auf dem Gymnasium gewesen war.
II
Der Leser wird natürlich meinen, ich wäre, als ich von Jefim wegging, in der entsetzlichsten Gemütsverfassung gewesen, aber da würde er irren. Ich hatte zu gut eingesehen, daß es sich um einen Schulbuben-, einen Gymnasistenstreich gehandelt hatte und daß der ganze Ernst der Sache völlig unberührt geblieben war. Meinen Kaffee trank ich bereits auf dem Wassilij-Ostrow, nachdem ich wohlbedacht um mein gestriges Lokal auf der Petersburger Seite einen Bogen gemacht hatte; sowohl das Lokal als auch die Nachtigall waren mir heute doppelt verhaßt. Eine besondere Eigenschaft: ich bringe es fertig, Orte und Dingen zu hassen, ganz so, als ob sie Menschen wären. Dagegen gibt es für mich in Petersburg auch einige glückliche Orte, das heißt solche, an denen ich aus irgendeinem Grunde irgendwann glücklich war – und nun gehe ich mit diesen Orten pfleglich um und suche sie wohlbedacht möglichst lange nicht auf, um sie später, inzwischen völlig einsam und unglücklich, aufzusuchen, um zu trauern und in Erinnerungen zu schwelgen. Beim Kaffee ließ ich Jefim und seinem gesunden Menschenverstand uneingeschränkte Gerechtigkeit widerfahren. Stimmt, er war praktischer veranlagt als ich, aber kaum realistischer. Ein Realismus, der nur bis zur eigenen Nasenspitze reicht, ist gefährlicher als die krauseste Schwärmerei, weil er blind ist. Aber auch, wenn ich Jefim (der wahrscheinlich in diesem Augenblick glaubte, ich liefe fluchend über die Straße) alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, wich ich nicht ein Haarbreit von meinen Überzeugungen ab, wie ich es auch heute nicht tue. Ich habe manchen gesehen, der auf den ersten Eimer kalten Wassers nicht nur von seinen Handlungen, sondern sogar von seiner Idee Abstand nahm und als erster all das belächelte, was er vor kaum einer Stunde für heilig gehalten hatte: Oh, wie leicht fällt ihm das! Mag Jefim sogar im Kern der Sache mehr im Recht sein als ich, mag ich der Dümmste der Dummen sein und mich nur zieren, aber auf dem tiefsten Grund der Sache gibt es einen solchen Punkt, in dem auch ich im Recht bin, ein gewisses Gerechtigkeitsgefühl habe auch ich, was sie, das ist die Hauptsache, niemals einsehen konnten.
Bei Wassin, auf der Fontanka bei der Semjonowskij-Brücke, war ich beinahe Schlag zwölf Uhr, fand ihn aber nicht zu Hause. Beschäftigt war er auf dem Wassiljewskij, zu Hause erschien er zu streng festgesetzten Zeiten, unter anderem fast immer um zwölf mittags. Da es außerdem ein Feiertag war, hatte ich angenommen, daß ich ihn sicher antreffen würde; da ich ihn nun nicht antraf, entschloß ich mich zu warten, obwohl ich ihn zum ersten Mal aufsuchte. Ich hatte mir folgendes überlegt: Die Sache mit dem Brief über die Erbschaft ist eine Gewissenssache, und wenn ich mich dabei für Wassin als Richter entscheide, beweise ich ihm die ganze Tiefe meiner Achtung, was ihm natürlich schmeicheln wird. Selbstverständlich machte mir dieser Brief wirklich Sorge, und ich war tatsächlich von der Notwendigkeit eines unbefangenen Schiedsrichters überzeugt; aber ich habe den Verdacht, daß ich schon damals ohne jede fremde Hilfe einen Ausweg aus der Verlegenheit gefunden haben würde. Und vor allem wußte ich auch selbst, wie, nämlich: Ich brauchte nur diesen Brief Werssilow persönlich in die Hand zu drücken; und er mochte dann damit anstellen, was er wollte: Das wäre seine Entscheidung. Sich selbst zum höchsten Richter aufzuschwingen und ein Urteil in einer solchen Sache zu fällen, würde sogar völlig falsch sein. Indem ich mich durch die persönliche Übergabe des Briefes ausschalten würde, und zwar schweigend, würde ich eben dadurch sofort gewinnen und eine Werssilow gegenüber überlegene Position einnehmen, weil ich für mein Teil, auf alle Vorteile aus dieser
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