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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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zusammenkrampfte, als ich allein geblieben war: Als hätte ich mir bei lebendigem Leib ein Stück Fleisch abgeschnitten! Weshalb ich plötzlich so außer mir geraten bin und weshalb ich ihn so gekränkt habe – so heftig und so gewollt –, das könnte ich jetzt nicht sagen und konnte es damals natürlich auch nicht. Und wie war er erbleicht! Und was war das: Dieses Erbleichen war vielleicht Ausdruck des aufrichtigsten und reinsten Gefühls, des tiefsten Kummers, und keineswegs des Zorns oder der Kränkung. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, als gäbe es Augenblicke, da er mich sehr liebte. Warum, warum sollte ich jetzt nicht daran glauben, zumal sich inzwischen so vieles vollkommen erklärt hat?
    Aber damals bin ich plötzlich in Wut geraten und habe ihm tatsächlich die Tür gewiesen, vielleicht auch aus der jähen Vermutung heraus, er sei gekommen, weil er zu erfahren hoffte, ob Marja Iwanowna nicht im Besitz weiterer Briefe Andronikows wäre. Daß er diese Briefe suchen mußte und sie auch suchte – das war mir bekannt. Aber wer weiß, vielleicht habe ich mich, namentlich in jenem Augenblick, ganz furchtbar getäuscht! Und wer weiß, ob ich nicht gerade, indem ich mich täuschte, ihn in der Folge auf den Gedanken an Marja Iwanowna und die Möglichkeit gebracht habe, daß sie auch weitere Briefe aufbewahrte?
    Und endlich schon wieder das Erstaunliche: Schon wieder sprach er wortwörtlich meinen Gedanken (von den drei Leben) aus, den ich kürzlich bei Kraft geäußert hatte, mit meinen eigenen Worten, das war die Hauptsache. Die Übereinstimmung der Worte mag abermals ein Zufall sein, aber wieviel wußte er über meine Natur, mein Wesen: Welcher Scharfblick, welche Treffsicherheit! Aber wenn er eines so nachempfindet, warum empfindet er anderes überhaupt nicht? Und hat er sich nicht aufgespielt, sondern war er wirklich außerstande zu begreifen, daß es mir nicht um den Werssilowschen Adel ging, daß ich ihm nicht meine illegitime Geburt nachtrug, sondern daß es mir, seit ich lebe, um Werssilow selbst ging, um den ganzen Menschen, den Vater, und daß dieser Gedanke mir bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist. Kann denn ein so feinfühliger Mensch so stumpf und plump sein? Und wenn nicht, warum macht er mich rasend, warum verstellt er sich?

Achtes Kapitel
    I
    Am nächsten Morgen bemühte ich mich, möglichst früh aufzustehen. Gewöhnlich erhob man sich bei uns gegen acht, das heißt ich, meine Mutter und meine Schwester; Werssilow tat sich noch etwas besonders Gutes, indem er bis halb zehn Uhr liegen blieb. Punkt halb neun brachte mir meine Mutter den Kaffee. Aber dieses Mal entwischte ich Punkt acht aus dem Haus, ohne auf den Kaffee zu warten. Ich hatte schon am Abend vorher einen Gesamtplan für diesen ganzen Tag aufgestellt. In diesem Plan, ungeachtet meiner leidenschaftlichen Entschlossenheit, unverzüglich zur Ausführung zu schreiten, steckte, das fühlte ich, außerordentlich viel Unbestimmtes und Verschwommenes, gerade in den wichtigsten Punkten; deshalb habe ich fast die ganze Nacht wie im Halbschlaf phantasiert, furchtbar viel geträumt und bin kaum ein einziges Mal richtig eingeschlafen. Trotzdem war ich frischer und ausgeruhter denn je. Besonders viel lag mir daran, meiner Mutter aus dem Wege zu gehen. Ich konnte unmöglich mit ihr ein anderes Gespräch als eines über das bewußte Thema beginnen und fürchtete, daß ein neuer und unerwarteter Eindruck mich von den selbstgesteckten Zielen ablenken könnte.
    Der Morgen war kühl, über allem lag feuchter, milchiger Nebel. Ich weiß nicht, warum, aber der frühe betriebsame Petersburger Morgen, ungeachtet seiner ausgesprochenen Unansehnlichkeit, gefällt mir immer, und dieses geschäftig eilende egoistische und stets gedankenverlorene Volk hat für mich um acht Uhr früh etwas besonders Anziehendes. Ich habe es besonders gern, unterwegs, in der großen Eile, entweder selbst eine sachliche Frage an irgend jemand zu richten oder von jemand gefragt zu werden: Frage und Antwort sind immer kurz, klar, verständig, beiläufig und fast immer freundlich, und die Bereitwilligkeit ist größer als zu jeder anderen Tageszeit. Der Petersburger ist tagsüber oder gegen Abend weniger mitteilsam, dagegen geneigt, bei jeder Gelegenheit zu schimpfen oder zu spötteln; ganz anders noch vor der Arbeit, in der Frühe, zu der nüchternsten und seriösesten Zeit. Das ist mir aufgefallen.
    Ich war wieder zur Petersburger Seite unterwegs. Da ich gegen zwölf

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