Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Erbschaft verzichtend (denn auch mir als Werssilows Sohn würde irgend etwas von diesem Geld zufallen, wenn nicht sogleich, dann eben später), mich Werssilow überlegen zeigen und für alle Zeiten den höchsten moralischen Maßstab an sein künftiges Verhalten anlegen würde. Andererseits würde mir niemand vorwerfen können, ich hätte die Fürsten ins Verderben gestürzt, weil dem Dokument keine entscheidende juristische Bedeutung zukam. All das hatte ich mir überlegt und vollkommen klargemacht, während ich in Wassins leerem Zimmer auf ihn wartete, bis mir sogar plötzlich klar wurde, daß ich ihn – so sehr nach einem Ratschlag für mein Handeln lechzend – einzig mit der Absicht aufgesucht haben könnte, ihm bei dieser Gelegenheit zu zeigen, was für ein edler und uneigennütziger Mensch ich sei, um mich auf diese Weise an ihm für meine gestrige Schmach in seiner Gegenwart zu rächen.
Sobald ich mir all dessen bewußt wurde, verspürte ich heftigen Verdruß; nichtsdestoweniger ging ich nicht fort, obwohl ich mit Sicherheit wußte, daß mein Verdruß jede fünf Minuten nur noch zunehmen würde.
Vor allem mißfiel mir Wassins Zimmer mehr und mehr. »Zeig mir dein Zimmer, und ich erkenne deinen Charakter« – richtig, das hätte man sagen können. Wassin wohnte in einem möblierten Zimmer zur Untermiete, bei Leuten, die offensichtlich arm und darauf angewiesen waren, außer ihm noch weitere Untermieter aufzunehmen. Ich kannte diese schmalen, spärlich, jedoch nicht ohne Anspruch auf Komfort möblierten kleinen Zimmer; mit dem obligaten Polstersofa vom Trödel, das von der Stelle zu rücken nicht empfehlenswert ist, einer Waschgelegenheit und einer eisernen Bettstelle hinter der spanischen Wand. Wassin muß der beste und zuverlässigste Untermieter gewesen sein; einen solchen Lieblingsuntermieter haben alle Vermieterinnen, und gegen ihn ist man besonders gefällig: Bei ihm wird sorgfältiger aufgeräumt und gefegt, irgendeine Lithographie über den Diwan gehängt und ein dürftiger kleiner Teppich unter dem Tisch ausgebreitet. Menschen, die auf solche muffige Sauberkeit und vor allem auf beflissene Gefälligkeit der Vermieterinnen Wert legen, sind selbst mit Vorsicht zu genießen. Ich war überzeugt, daß der Ruf des besten Untermieters Wassin schmeicheln mußte. Ich weiß nicht, warum, aber der Anblick dieser beiden von Büchern überhäuften Tische reizte mich allmählich. Bücher, Papiere, das Tintenfaß – alles befand sich in der widerwärtigsten Ordnung, deren Ideal der Weltanschauung der deutschen Vermieterin und ihrer Bediensteten entsprach. Es gab reichlich viele Bücher, nicht etwa Zeitungen oder Journale, sondern richtige Bücher – offensichtlich wurden sie von ihm gelesen, und wenn er sich zum Lesen oder gar Schreiben hinsetzte, so tat er es wahrscheinlich auf eine außerordentlich bedeutende und sorgfältige Art und Weise. Ich weiß nicht, aber ich ziehe es vor, wenn die Bücher durcheinander herumliegen oder wenn man die Beschäftigung mit ihnen wenigstens nicht zelebriert. Wahrscheinlich war Wassin außerordentlich höflich zu seinen Besuchern, aber bestimmt gab jede seiner Gesten zu verstehen: »Siehst du, jetzt werde ich dir anderthalb Stunden widmen und dann, wenn du dich verabschiedet hast, mich endlich vernünftig beschäftigen.« Vermutlich könnte man mit ihm ein außerordentlich interessantes Gespräch führen und einiges Neue erfahren, aber – »jetzt unterhalte ich mich mit dir, und du findest mich interessant, aber erst, wenn du dich verabschiedet hast, werde ich mich Interessanterem widmen …« Und dennoch ging ich nicht fort, sondern blieb weiter sitzen. Daß ich auf seinen Rat keineswegs angewiesen war, davon war ich inzwischen völlig überzeugt.
Ich saß schon etwa eine Stunde da, ich saß am Fenster auf einem der zwei vor dem Fenster stehenden Rohrstühle. Ich war wütend, auch weil die Zeit verstrich, während ich bis zum Abend doch irgendeine Bleibe finden mußte. Ich wollte schon vor lauter Langeweile nach einem Buch greifen, aber ich tat es nicht: Der bloße Gedanke, mich ablenken zu wollen, machte das Warten doppelt schlimm. Die Totenstille hatte schon länger als eine Stunde gedauert, als ich plötzlich, irgendwo in der Nähe, hinter der Tür, die mit dem Diwan zugestellt war, allmählich, unwillkürlich ein immer erregter werdendes Flüstern vernahm. Es waren zwei offenbar weibliche Stimmen, das konnte ich erkennen. Aber einzelne Worte waren nicht zu
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