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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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unbedingt auf der Fontanka bei Wassin sein mußte, den man am ehesten um zwölf Uhr antreffen konnte, hatte ich es sehr eilig und gönnte mir keine Pause, ungeachtet der größten Lust, irgendwo einen Kaffee zu trinken. Außerdem mußte ich unbedingt Jefim Swerjow noch zu Hause erreichen: ich wollte wieder zu ihm und wäre um ein Haar zu spät gekommen; er trank gerade seinen Kaffee aus und war im Begriff, das Haus zu verlassen.
    »Wieso bist du schon wieder da?« begrüßte er mich, ohne sich vom Platz zu erheben.
    »Gerade das werde ich dir gleich erklären.«
    Jeder frühe Morgen, darunter auch der Petersburger, übt auf die Natur des Menschen eine ernüchternde Wirkung aus. Manch feuriger nächtlicher Traum verflüchtigt sich mit dem Morgenlicht und der Kälte, und zwar vollständig; und ich selbst hatte Gelegenheit, mich manchmal am Morgen an meine nächtlichen, sich soeben verdunsteten Träume, zuweilen auch Taten, mit Selbstvorwürfen und Scham zu erinnern. Aber nebenbei möchte ich bemerken, daß ich den Petersburger Morgen, auch wenn er als der prosaischste auf der Erdkugel gilt – beinahe für den phantastischsten der Welt halte. Das ist meine persönliche Ansicht oder, besser gesagt, mein Eindruck, aber ich stehe zu ihm. An einem solchen Petersburger Morgen, faulig, feucht und neblig, müßte der, wie mir scheint, absurde Traum des Hermann aus Puschkins »Pique Dame« (eine kolossale Gestalt, ein außerordentlicher, durch und durch Petersburger Typus – der Typus der Petersburger Periode!) an Faszination gewinnen. Hundertmal hat sich mir mitten in diesem Nebel die sonderbare Phantasie aufgedrängt: “Was, wenn dieser Nebel nach oben stiege und verschwände, und mit dem Nebel zusammen auch diese modrige, glitschige Stadt nach oben stiege und sich auflöste, wie Rauch, und nur der frühere finnische Sumpf übrigbliebe, geschmückt in seiner Mitte mit einem ehernen Reiter auf dem feuerschnaubenden hochgerissenen Roß?” Kurz, ich kann meine Eindrücke nicht richtig schildern, weil all das Phantasie ist, letztlich Poesie und also Unsinn; nichtsdestoweniger stellte sich und stellt sich mir immer eine weitere, aber völlig sinnlose Frage: “Sie alle hasten und überschlagen sich, aber wer weiß, vielleicht wird das alles von irgend jemand geträumt, und es gibt hier nicht einen einzigen Menschen, einen echten, richtigen Menschen, und nicht eine einzige wirkliche Tat? Irgend jemand, dem dies alles träumt, wird plötzlich aufwachen – und alles ist plötzlich verschwunden.” Aber ich bin abgeschweift.
    Ich schicke voraus: In jedem Leben gibt es Vorhaben und Träume, die so exzentrisch scheinen, daß sie auf den ersten Blick unfehlbar als Wahnsinn betrachtet werden können. Mit einer Phantasie solcher Art habe ich an diesem Morgen Swerjow aufgesucht – Swerjow, weil ich in Petersburg keinen Menschen kannte, an den ich mich in diesem Fall hätte wenden können. Indessen war Jefim gerade die Person, an die ich mich, hätte ich die Wahl gehabt, als letzten mit meinem Antrag gewandt hätte. Als ich ihm gegenüber Platz nahm, hatte ich sogar selbst das Gefühl, daß ich, verkörpertes Phantasieren und Fieberwahn, vis-à-vis der verkörperten goldenen Mitte und Prosa säße. Aber auf meiner Seite waren die Idee und ein sicheres Gefühl, und auf seiner – war der praktische Verstand: So etwas tut man nicht. Also, ich erklärte ihm kurz und bündig, daß ich außer ihm keinen Menschen in Petersburg hätte, den ich in einer extremen Ehrensache als Sekundanten schicken könnte; daß er als alter Kamerad nicht einmal das Recht habe, meine Bitte abzuschlagen, daß meine Forderung an den Gardeleutnant Fürst Sokolskij ergehen solle, weil er vor über einem Jahr in Ems meinen Vater, Werssilow, geohrfeigt hätte. Jefim war übrigens über meine familiären Bewandtnisse sogar sehr genau unterrichtet, über meine Beziehung zu Werssilow und fast über alles, was mir selbst aus Werssilows Lebensgeschichte bekannt war; ich selbst hatte ihm alles anvertraut, außer, versteht sich, einigen Geheimnissen. Er saß da und hörte zu, gleichsam mit gesträubten Federn, wie ein Spatz im Käfig, schweigsam und ernst, schwammig und mit zerzaustem, weißblonden Haar. Ein spöttisches Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Dieses Lächeln war um so schlimmer, da es ihm überhaupt nicht bewußt, sondern unwillkürlich war; es war zu erkennen, daß er sich in diesem Augenblick wirklich und wahrhaftig mir gegenüber überlegen fühlte,

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