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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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soll ich denn überhaupt haben? Ich stecke doch hier fest! Ich renne mir die Füße aus dem Leib, Sir, die Füße! Sie läutet alle fünf Minuten die verdammte Glocke! Ständig will irgendjemand sein Gepäck nach oben getragen haben oder wieder nach unten. Oder jemand will, dass ich nach draußen renne und ihm eine Droschke besorge! Oder jemand will, dass ich eine halbe Meile renne, um eine Nachricht zu überbringen. Wenn sie mir einen Schilling dafür geben, habe ich noch Glück gehabt! Sie lässt mich außerdem alle Schuhe putzen, weil ich zugleich der Stiefeljunge bin, wegen meiner Verfehlungen. Ich hab nicht viel Zeit, Sir, dieses Korkbrett zu beobachten. Ständig kommen Leute und hängen ihre Nachrichten dran und nehmen sie wieder herunter. Wenn das Brett zu voll wird, muss ich alles herunternehmen und ins Feuer werfen. Ich lese keinen von diesen Zetteln. Sie vielleicht. Ich nicht.«
    »Dann lass mich dir eine andere Frage stellen«, sagte ich. »Die französische Lady, die hier zu Gast ist …«
    »Ach, die «, sagte der Page.
    »Ist sie allein hier eingezogen?«
    »Jepp«, sagte der Page bestimmt. »Ich hab ihre Taschen allesamt in die oberste Etage getragen, und sie hat mir einen Sixpence gegeben, mehr nicht. Ja, ich erinnere mich an ihre Ankunft. Wenn sie abreist, muss ich ihre Taschen wieder nach unten tragen, ganz sicher.«
    »Sie war alleine? Kein Gentleman in ihrer Begleitung, möglicherweise ein Franzose?«
    Er kniff die Augen zusammen. »Da war ein Kerl in der Kutsche, als sie ankam, aber er ist nicht ausgestiegen und hat ihr nicht geholfen, auch nicht beim Abladen ihres Gepäcks, nichts. Sie stieg aus, der Kutscher kletterte von seinem Bock und pfiff nach mir. Ich ging nach draußen und lud mit dem Kutscher zusammen ihr Gepäck aus. Dann bekam ich den Auftrag, alles nach oben zu bringen, und die Droschke ratterte mit dem anderen Fahrgast davon. Ich habe den Kerl nicht reden hören, kein einziges Wort, und ich konnte ihn auch nicht deutlich sehen, weil es dunkel war in der Kutsche und er sich die Hand vor das Gesicht hielt. Ich kann nicht sagen, ob er ein Ausländer war oder nicht. Er könnte der Zar von Russland gewesen sein oder ein Invalide ohne Beine. Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen, Sir.«
    Also hatte Hector Mas – falls der Mann in der Kutsche Hector Mas gewesen war, der alte Freund von Victorine Tapley, der mit ihr nach England gereist war – nicht im gleichen Hotel mit ihr logiert. Aus dem gleichen Grund, aus dem er sich in der Dunkelheit der Kutsche gehalten hatte bei ihrer Ankunft? Oder gab es einen anderen Grund?
    Ich gab dem Pagen einen Schilling, für den Fall, dass ich noch einmal mit ihm reden musste. Er konnte sich als nützlicher Spion erweisen.
    »Soll ich mehr über diese Karte rausfinden, Sir?«, fragte der Page, ermutigt durch meine Großzügigkeit. »Ich könnte bei den anderen Hotels in der Gegend vorbeigehen und nachsehen, ob sie auch so eine haben.«
    »Nicht nötig«, antwortete ich. »Die Detektivagentur ist nicht mehr im Geschäft.«
    »Was meinen Sie, Ross?«, wollte Dunn wissen, als ich zum Yard zurückgekehrt war.
    »Entweder lügt sie sehr plausibel, oder sie sagt die Wahrheit. Sehr wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Sie verrät uns nichts, solange sie nicht muss. Sie hat beispielsweise nicht von sich aus erzählt, dass sie Jenkins beauftragt hat. Sie hat bei ihrem ersten Besuch hier im Yard nicht erzählt, dass sie in Begleitung eines Mannes nach England gekommen ist. Sie hatte den Tee bei Jenkins völlig vergessen und Miss Poole nicht gesehen, die hinter ihr in der Tür stand und nicht in Jenkins’ Büro kam. Also musste sie schnell entscheiden, ob sie weiterhin bestreiten soll, dass ein Mann sie begleitet, oder seine Existenz zugeben. Und weil sie nicht wissen kann, ob Miss Poole sie deutlich gesehen hat oder, wie wir wissen, nur flüchtig und von hinten oder ob ich gar einen weiteren Zeugen beibringen kann, beschloss sie, es einzuräumen.
    »Und der Grund für ihre Zurückhaltung?«, fragte Dunn und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf dem Schreibtisch.
    Ich legte die Stirn in Falten und wählte meine Worte mit Bedacht. »Ich würde sagen, Sir, dass sie ihr bisheriges Leben in einer ziemlich halbseidenen Welt verbracht hat. Es liegt nicht in ihrer Natur, irgendjemandem zu vertrauen oder sich Fremden zu öffnen, erst recht nicht gegenüber der Polizei. Balletttänzerinnen werden von Scharen von Bewunderern verfolgt, deren Absichten

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