Ein guter Blick fürs Böse
erwirbt man nicht über Nacht! Victorine wusste bis gestern Nachmittag nicht, dass sie Witwe war, nicht bevor sie Jonathan Tapley aufgesucht hatte und zum Bestatter gebracht wurde, um den Leichnam ihres Mannes zu sehen! Jedenfalls behauptet sie das. Sie hat gehofft, Thomas lebendig vorzufinden, wenn auch geistig verwirrt. Ist sie vom Bestatter gleich zu einem Bekleidungsgeschäft gerannt, ohne sich vorher die Zeit zu nehmen, eine Träne zu vergießen?«
»Nein«, antwortete ich. »Sie kam zum Scotland Yard, zu Dunns und meiner Überraschung. Sie trug Grau, eine Husarenjacke und diesen Hut, von dem du gesprochen hast, mit den lavendelfarbenen Rosen und den Bändern.«
»Aha. Also hatte sie gar keine Zeit, einkaufen zu gehen! Sie muss mit einer großen Truhe oder einem Schrankkoffer von Frankreich nach England gereist sein!«
»Der Hotelpage sagte, sie wäre mit einer ganzen Reihe von Taschen angekommen.«
Lizzie nickte. »Hat sie diesen kompletten Satz Trauergarderobe eingepackt, auf die vage Möglichkeit hin herauszufinden, dass ihr Mann hier in England gestorben war? Wenn sie glaubte, dass er noch am Leben war, ergibt es keinen Sinn. Die Garderobe nahm kostbaren Platz ein und erschwerte ihr Reisegepäck zusätzlich. Anscheinend hielt sie es durchaus für möglich, dass er zwischenzeitlich gestorben sein könnte, und sie scheute die Ausgaben für schwarzen Flor und schwarze Garderobe hier in England. Die Frage ist nur – wieso sollte Thomas gestorben sein? Er hatte sich von seinem schweren Fieber körperlich erholt. Es erscheint mir zumindest äußerst pessimistisch, die Taschen mit Kleidung vollzustopfen, die man möglicherweise gar nicht benötigt.«
»Es sei denn, sie war recht sicher, dass sie die Garderobe benötigen würde«, sagte ich nachdenklich.
Lizzie strahlte mich an. »Gestern trug sie Grau. Grau ist eine recht nüchternde Farbe, die man durchaus für eine Woche tragen kann, bis man schwarze Sachen erstanden hat. Wäre sie so vorgegangen, hätte sich das Rätsel ihres plötzlichen Erscheinens in voller Trauer nicht ergeben. Aber an diesem Nachmittag hatten sich Maria Tapley und ihre Stieftochter Flora zu einem Antrittsbesuch angemeldet. Victorine wollte einen guten Eindruck erwecken und dazu die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen. Sie konnte nicht widerstehen, die schwarze Trauergarderobe anzulegen, die sie mitgebracht hatte.«
Lizzie lehnte sich zurück und wartete.
Ich musste ihr meine Bewunderung gestehen. »Meine liebe Lizzie, ungewöhnliche Kopfbedeckung mit Lavendelrosen, schwarze Garderobe mit Trauerflor – sämtliche Indizien in diesem Fall haben mit Damengarderobe zu tun. Was soll ein männlicher Detektiv damit anfangen?«
»Ganz genau!«, sagte Lizzie in stillem Triumph. »Es ist, wie ich Superintendent Dunn immer wieder sage! Scotland Yard braucht ein paar weibliche Detektive.«
KAPITEL SECHZEHN
Elizabeth Martin Ross
Am nächsten Morgen erhielt ich eine kurze Notiz, abgeschickt am Abend vorher auf der anderen Seite der Stadt. Sie kam von Flora Tapley.
Liebe Mrs. Ross,
ich hoffe, Sie verzeihen, wenn ich Ihnen Umstände bereite, aber wäre es vielleicht möglich, dass wir uns noch einmal im Park am Bryanston Square treffen? Ich muss wirklich ganz dringend mit Ihnen reden.
Entschuldigen Sie meine anmaßende Bitte, aber ich wäre Ihnen zutiefst dankbar.
Ihre sehr ergebene
Flora Tapley
Ben war bereits zum Yard aufgebrochen. Weder er noch Dunn würden meine weitere aktive Einmischung billigen, doch Floras Bitte war persönlich. Das arme Ding war eindeutig bekümmert, und das überraschte mich nicht!
Wir machten uns auf den Weg, Bessie und ich. Bessie war sogleich davon ausgegangen, dass ich sie mitnehmen würde, und hatte sich nicht davon abbringen lassen.
»Das alles ist eine sehr komische Sache, Missus, und Sie brauchen jemanden, der auf Sie aufpasst! Wenigstens weiß ich dann, wo Sie sind und was Sie gemacht haben, und wenn irgendwas Schlimmes passiert, kann ich es dem Inspector berichten.«
»Es wird aber nichts Schlimmes passieren, Bessie.«
Sie verzog das kleine Gesicht auf eine Weise, die ihrer eher unauffälligen Erscheinung gar nicht stand. »Ich nehme an, der arme alte Mr. Tapley hat auch geglaubt, ihm würde nichts Schlimmes passieren, wo er doch bei einer so respektablen Lady wie Mrs. Jameson gewohnt hat. Und was ist passiert? Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen. Da haben Sie’s!«
»Niemand wird mir den Schädel … niemand wird mir am
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