Ein guter Blick fürs Böse
im Allgemeinen genauso offensichtlich wie unehrenhaft sind. Wie Victorine Guillaume gesagt hat, das berufliche Leben einer Balletttänzerin ist kurz. Wenn sie aufhören mit Tanzen und bis dahin keinen Ehemann oder großzügigen Beschützer gefunden haben, bleibt ihnen häufig nichts anderes übrig, als sich zu verkaufen. Victorine Guillaume war keine Unschuldige, aber sie hat einen geschäftstüchtigen Kopf auf den Schultern. Gut möglich, dass sie Geld gespart hat. Oder sie hat es auf eine Weise verdient, die sie nicht gerne publik macht. Wie dem auch sei, es reichte aus, um davon ein Gasthaus zu kaufen und ans Laufen zu bringen. Ihre Heirat mit Thomas Tapley diente möglicherweise nur dazu, den Status der respektablen Ehefrau zu erlangen, mehr nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie angesichts ihres Theater-Hintergrunds nichts bemerkt hat von Tapleys sexueller Ausrichtung. Und auch wenn ihm der Ruf vorauseilte, alte Damen zu becircen, bis sie ihn bei sich aufnahmen, so denke ich nicht, dass er Victorine Guillaume so einfach einwickeln konnte. Also muss es etwas anderes gegeben haben, das sie aus der Ehe zu gewinnen hoffte. Übrigens, Sir, ich vermute, dass sie eine Perücke trägt.«
»Was?«, fragte Dunn verblüfft.
»Nun, Sir, sie ist immer sehr kunstvoll frisiert, und ihre Haare haben heute ganz genauso ausgesehen wie gestern. Möglich, dass sie eine Friseurin ins Hotel bestellt hat, oder aber es ist eine Perücke. Sie könnte ihr Aussehen, sollte es erforderlich werden, relativ leicht verändern, wenn sie eine Perücke trägt. Sowohl Major Griffiths als auch Miss Poole haben eine Frau mit dunkelroten Haaren beschrieben. Wir kennen Victorine Guillaume nur mit pechschwarzen Locken, doch das bedeutet nicht, dass es sich nicht um ein und dieselbe Person handelt.«
»Wir müssen sie im Auge behalten«, sagte Dunn grimmig. »Um zu verhindern, dass sie aus dem Land flüchtet.«
»Die französische Polizei wird sie finden, Sir, falls sie auf die Idee kommt. Sie würde ihr Gasthaus in Montmartre nicht so ohne Weiteres aufgeben, es sei denn, ihre Lage würde aussichtslos und sie müsste verschwinden. Im Moment interessiert mich ihr geheimnisvoller Begleiter, dieser Hector Mas, beinahe noch mehr. Er wollte bei Victorines Hotel nicht gesehen werden. Warum war er so darauf bedacht, außer Sicht zu bleiben? Victorine Guillaume behauptet, er wäre nach Frankreich zurückgekehrt. Ich frage mich, Sir, ob es möglich wäre, die französische Polizei zu kontaktieren und Erkundigungen über Mas einzuholen?«
»Ich kümmere mich darum, Ross«, versprach Dunn.
»Unterdessen hat die Lady Ansprüche auf Thomas Tapleys Nachlass erhoben. Ich glaube nicht, dass sie weggehen wird, bevor diese Angelegenheit nicht entschieden ist.«
Später am Abend des gleichen Tages lauschte Lizzie schweigend und aufmerksam meinem Bericht. Nachdem ich geendet hatte, saß sie für einige Sekunden in Gedanken versunken da, bevor sie das Wort ergriff.
»Also hat Maria Tapley ihre Ziehtochter heute Nachmittag zu ihrer neu gefundenen Stiefmutter mitgenommen? Ich bin überrascht, dass sie Flora erlaubt hat, sich auch nur in ihre Nähe zu begeben.«
»Die Tapleys können das Zusammentreffen der beiden kaum verhindern«, erinnerte ich Lizzie. »Also hielten sie es für besser, dass die erste Begegnung so schnell wie möglich erfolgte, damit Flora vorbereitet ist, wenn die Erbschaftsangelegenheit vor Gericht geht – falls es dazu kommt. Spätestens dort hätte sie ihr gegenübergestanden, und sie sollte wissen, mit wem sie es zu tun hat. Vielleicht war es auch Floras eigener Wunsch, die Frau kennenzulernen, die ihr Vater in Frankreich geheiratet hatte?«
Lizzie dachte über meine Worte nach und pflichtete mir bei. Ihre nächste Frage überraschte mich. »Du sagst, Victorine trug tiefe Trauer? Von Kopf bis Fuß? Sogar mit einer Witwenhaube?«
»Von Kopf bis Fuß und alles in guter Qualität – in meinen Augen. Schwarzer Trauerflor, selbst die Spitzenhandschuhe waren schwarz.«
»Hmmm«, sagte Lizzie und beugte sich mit aufgeregter Miene vor. »Woher hat sie das alles?«
»Was?«
»Die Trauergarderobe. Wo und wann hat sie die Trauergarderobe erworben?«
Ich gestehe, im ersten Moment war mir nicht klar, worauf sie mit ihrer Frage hinauswollte, und so antwortete ich: »Vermutlich ist es nur angemessen, wenn sie sich als Witwe in Trauer kleidet.«
»Ja, sicher! Sicher«, sagte Lizzie ungeduldig. »Aber so eine komplette Trauergarderobe
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