Ein guter Blick fürs Böse
eingefunden. Sie erzählte uns, während sie in ein Taschentuch schniefte, dass sie die Gouvernante »der lieben kleinen Flora« gewesen war vom Tag ihrer Ankunft im Haushalt der Tapleys bis zu dem Tag, an dem sie alt genug geworden war, um die Internatsschule zu besuchen.
»Die Familie war immer sehr gut zu mir«, vertraute sie mir an. »Mr. Tapley – Mr. Jonathan Tapley, heißt das – zahlt mir eine kleine Rente in Anerkennung meiner Dienste. Der Gedanke, dass der andere Mr. Tapley, Floras Papa, heute begraben wird … das arme, arme Kind!« Sie suchte in ihrem Taschentuch Zuflucht.
»Kannten Sie Mr. Thomas Tapley?«, erkundigte ich mich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin dem Gentleman nie begegnet. Er war in den ersten Jahren einige Male zu Besuch, um seine Tochter zu sehen, aber das war, bevor er nach Frankreich ging. Ich habe ihn stets nur flüchtig gesehen, ohne mit ihm zu reden, wenn Flora von ihrer Tante aus dem Kinderzimmer nach unten gerufen wurde. Ich brachte sie dann nach unten und ließ sie an der Tür warten. Er blieb nie lange, Floras Papa, meine ich.«
Eine weitere Gruppe von Gästen traf ein. Sie bestand aus vier Gentlemen, von denen Ben, wie sich herausstellte, drei kannte. Alle vier waren eigens zur Beerdigung aus Harrogate hergekommen, zwei Anwälte namens Thorpe – Vater und Sohn, wie ich den Unterhaltungen entnahm – sowie ein Major Griffiths, Mieter von The Old Hall, dem Haus, in dem Thomas Tapley aufgewachsen war. Der vierte Gentleman war ein wahrer John Bull von einem Mann, von stämmiger Statur, mit rotem Gesicht und einem schmalkrempigen Hut, einem Mantel aus schwarzem Tuch sowie altmodischen Reithosen und Gamaschen. Er informierte uns, dass er ein Freund von Thomas gewesen war, aus Kindertagen.
»Auch wenn ich seit Jahren nichts mehr von ihm gehört habe«, erklärte er. »Nicht mehr, seit er ins Ausland gegangen ist. Ich musste nicht viel nachdenken, um nach London zu seiner Beerdigung zu kommen.« Er schüttelte den Kopf. »Der arme Kerl, er war ein bescheidener Reiter und ein schlechter Schütze, aber wenn es ums Lesen ging, da konnte er Shakespeare am Meter zitieren.«
An dieser Stelle kündeten das Rumpeln von Rädern und Hufgeklapper das Eintreffen des Leichenwagens in seiner ganzen traurigen Pracht an. Der Wagen wurde gezogen von einem Paar pechschwarzer Pferde mit im Gleichtakt wackelnden schwarzen Federbüschen über den Ohren. Die Kutsche mit den Tapleys folgte dahinter, und nun sah ich zum ersten Mal selbst das außergewöhnliche Paar »goldener Zugpferde«, die Joey so lebhaft beschrieben hatte. Ich gestehe, sie wirkten seltsam deplatziert und auffällig für die traurige Gelegenheit, und das, obwohl auch sie schwarze Federbüschel und Rosetten trugen. Als Erstes stieg Jonathan aus der Kutsche. Er hatte einen schwarzen Seidenschal um seinen Zylinder gewickelt und hob die Hand, um zuerst seiner Frau und dann Victorine beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich hatte mich gefragt, ob sie ihr erlauben würden, mit ihnen zu kommen – schließlich war sie ein Mitglied der Familie. Wie auch immer die Befindlichkeiten zwischen Victorine und den Tapleys sein mochten, ich nehme an, sie konnten es sich einfach nicht leisten , die Witwe nicht mitzubringen. Es hätte zu Gerede geführt, und die Tapleys fürchteten Gerede wie der Teufel das Weihwasser.
Ich musterte Victorine Tapley so eingehend, wie ich konnte, ohne sie allzu unverblümt anzustarren. Sie war unbestreitbar eine attraktive Frau, auch wenn sie die erste Jugend längst hinter sich gelassen hatte. Sie hatte die Haltung einer Königin – andererseits war sie ja auch eine ausgebildete Tänzerin gewesen. Sie trug einen teuer aussehenden Hut, verziert mit schwarz gefärbten Straußenfedern und vermittels langer Nadeln sicher an ihre kunstvolle Lockenpracht geheftet. Ein Hut wie dieser kam sicher aus Paris, dachte ich und war mir zugleich schmerzhaft meiner altmodischen Trauerhaube bewusst. Ich war mehr als je zuvor überzeugt, dass Victorine ihre gesamte Trauergarderobe aus Frankreich mitgebracht hatte, und das, obwohl sie neben der Hutschachtel wenigstens zwei Koffer benötigte. Sie hatte meiner festen Meinung nach damit gerechnet, dass der arme Thomas tot war oder bald sterben würde. Aber war sie eine Mörderin?
Als Letzte stieg Flora aus, mit ein wenig Abstand, als wäre sie beinahe vergessen worden. Sie trug eine kleine Trauerhaube mit einem gemusterten Schleier und folgte Onkel, Tante und Stiefmutter
Weitere Kostenlose Bücher