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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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mit gesenktem Kopf. Maria Tapley blickte sich einmal zu ihr um, doch ansonsten gewann ich den Eindruck, als hätten sowohl Jonathan als auch seine Frau nur Augen für die Witwe.
    Der Sarg wurde in die Kirche getragen, die Familie folgte, und wir anderen alle folgten der Familie. Unsere kleine Schar wirkte in dem großzügigen, weiß-goldenen Innenraum noch kläglicher. Der Gottesdienst war kurz. Wir verließen die Kirche. Ben, Mrs. Jameson und ich stiegen in Wally Slaters Kutsche, und Superintendent Dunn kam hinzu. Wir folgten dem Leichenwagen, der Familienkutsche und der Droschke mit den Thorpes und der John-Bull-Inkarnation sowie der ehemaligen Gouvernante, die sie freundlicherweise bei sich mitfahren ließen. Unser Ziel war der einfache Bahnhof in der Nähe des großen Waterloo Terminus, wo die private Eisenbahnlinie zu dem riesigen Friedhofsgelände der Brookwood Necropolis vierzig Kilometer außerhalb von London ihren Anfang nahm.
    Während der Sarg mit den Sargträgern eingeladen wurde und wir Trauergäste in einen separaten Waggon stiegen, gesellten sich zwei weitere Personen zu unserer Gesellschaft, ein Mann und eine Frau in mittlerem Alter, plump und untersetzt, anscheinend ein Ehepaar. Sie stellten sich nicht vor, redeten unterwegs mit niemandem, und ich konnte mich nicht erinnern, sie in der Kirche gesehen zu haben. Ich fragte mich, ob sie sich vielleicht aus Versehen der falschen Beerdigung angeschlossen hatten. Wir waren nicht die einzige Trauergesellschaft gewesen am Bahnhof, die darauf gewartet hatte, nach Brookwood zu fahren. Es gab wenigstens noch zwei weitere Beerdigungen an diesem Nachmittag. Ich wusste nicht, ob sie sich der Möglichkeit bewusst waren, doch falls es so war, dann saßen sie es mit wahrer britischer Entschlossenheit aus.
    Mrs. Jameson schien fasziniert von der Witwe Tapley und mehr noch von Jonathan Tapley. Nach einem oder zwei eher ratlosen Blicken auf die Französin im Verlauf der Reise nach Brookwood beobachtete sie ihn unablässig, nur um jedes Mal, wenn sie glaubte, irgendjemand hätte es bemerkt, hastig die Augen niederzuschlagen oder zur Seite zu sehen. Einmal begegnete sie dabei meinem Blick, erkannte, dass ich ihr Tun bemerkt hatte, und lief dunkelrot an. Es war keine große Überraschung, dass sie Mühe hatte, die stattliche, prosperierende Gestalt von Jonathan Tapley mit dem dürren, heruntergekommenen Mann in Verbindung zu bringen, der sich bei ihr als Untermieter einquartiert hatte. Sie fragte sich wahrscheinlich zum wiederholten Male, wie es dazu hatte kommen können, dass Thomas Tapley sein Leben als Untermieter in ihrem Haus ausgehaucht hatte.
    Flora blieb die ganze Zeit über hinter ihrem Schleier. Das Blättermuster auf dem dünnen Seidenmaterial ließ ihre Gesichtszüge nur erahnen, und selbst das nur stellenweise. Während der Schleier sich beim Schaukeln des Waggons bewegte, entstand der Eindruck einer Laterna magica, die ständig andere Bereiche ihres Gesichts zeigte. Ich sah ein Auge, dann eine Seite ihres Mundes, dann ihre Wange, alles erstarrt in düsterer Schwermut. Manchmal hatte ich das eigenartige Gefühl, dass nicht Flora hinter dem Schleier saß, sondern eine Porzellanmaske. Von Zeit zu Zeit warf ihre Tante Maria einen Blick zu ihr, doch sie fand keine tröstenden Worte für ihre Ziehtochter, nicht einmal ein behutsames Streicheln über den Arm. Flora hielt sich tapfer, und das war alles, was zählte.
    Der Bahnhof der Nekropole besaß zwei getrennte Bahnsteige, wo Trauergäste aussteigen konnten. Einen für die Angehörigen der Kirche von England und einen anderen für alle anderen Konfessionen oder Religionen. Hier hätte das unbekannte Paar die Gelegenheit gehabt, sich davonzustehlen und auf die richtige Gesellschaft zu warten, doch die beiden blieben bei uns. Anscheinend waren sie doch zu Tom Tapleys Beerdigung gekommen.
    Die vierzig Kilometer von London bis zum Friedhof waren nicht weit genug gewesen, um die letzten Spuren des Nebels abzuschütteln. Dunst lag über der großen, parkähnlichen Landschaft voller Grabstätten, die eigens als letzte Ruhestätte für die vielen Londoner Toten geschaffen worden war, die nicht bedeutend genug waren oder nicht genügend Geld hatten, um sich ein Grab in London zu kaufen. Was nicht heißen soll, dass die Grabstätten hier billig gewesen wären. Der Dunst hing zwischen den Bäumen und über den Grabsteinen und Monumenten und behinderte unsere Sicht. Der Tag war dunkler, als er um diese Zeit eigentlich

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