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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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hätte sein sollen. Die Sonnenstrahlen hatten die dichte Wolkendecke den ganzen Tag lang nicht zu durchdringen vermocht.
    Wir gingen in feierlicher Prozession mit knirschenden Schritten auf den gekiesten Wegen, passierten steinerne Urnen auf Sockeln unter gemeißelten Girlanden und Engel mit blinden Augen und ausgebreiteten Flügeln, die niemals flattern und sie vom Erdboden abheben lassen würden. Es war viel kälter geworden als in London. Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Es war ein ziemlich weiter Weg bei unserer geringen Geschwindigkeit, und bis wir das Grab endlich erreicht hatten, wurde es bereits dunkel. Der Geistliche, der uns von der Kirche bis hierher begleitet hatte, sprach die erforderlichen Worte, und der arme Tom Tapley wurde in seinem Sarg in den Boden gelassen. Wir nahmen Abschied und wandten uns ab, um zum Bahnhof zurückzukehren.
    Nachdem das Begräbnis vorbei war, breitete sich in der kleinen Gesellschaft spürbare Erleichterung aus. Unsere bis dahin disziplinierte Prozession hatte sich aufgeteilt und ging in kleinen Grüppchen. Die Sargträger des Bestatters hielten sich im Hintergrund. Der dicke Mann und seine gleichermaßen dicke Frau hatten sich endlich an Jonathan und Maria Tapley gewandt und ihnen ihr Beileid ausgesprochen. Die Tapleys nahmen es mit Fassung entgegen, auch wenn ich den starken Verdacht hegte, dass sie keine Ahnung hatten, wer die Leute waren. Victorine Tapley, Toms Witwe, hatte sich abgesondert und blieb für sich allein. Ben unterhielt sich mit Major Griffiths und Superintendent Dunn mit dem stämmigen Burschen in Reithosen. Die kleine Gouvernante unterhielt sich flüsternd mit den beiden Anwälten aus Harrogate, und Flora …
    Ich blickte mich halb alarmiert um. Wo steckte Flora? Hastig sah ich in alle Richtungen, doch da war nichts außer Bäumen, Grabsteinen und Statuen auf Säulen.
    Ich rief ihren Namen, so laut ich konnte, ohne Rücksicht auf die Unschicklichkeit angesichts unserer Umgebung. »Flora!«
    Fast im gleichen Augenblick brach heller Aufruhr los, und Panik drohte auszubrechen. »Wo zum Teufel ist sie?«, rief Jonathan. Seine Frau stieß einen Schreckensschrei aus und kippte hintenüber, um von dem unglücklichen Geistlichen aufgefangen zu werden. Die vier Gentlemen aus Harrogate rannten in verschiedene Richtungen auseinander. Der dicke Bursche in Reithosen rief immer wieder »Hallooo!«, als wäre er auf der Jagd, und wir sahen, wie er auf eine Stelle in einiger Entfernung deutete, wo sich durch Nebel und einsetzende Dunkelheit nur undeutlich erkennbar etwas bewegte, ein eigenartiger Umriss, der sich ständig veränderte. Dann löste er sich aus dem Schatten der Bäume, und ich sah, dass es eine Frau und ein Mann waren, die miteinander rangen. Sämtliche Männer unserer Gesellschaft einschließlich der Sargträger rannten laut schreiend in die Richtung. Nur der Geistliche, der immer noch Maria Tapley hielt, bildete eine Ausnahme.
    »Polizei! Stehen bleiben!«, rief Ben ununterbrochen. Die männliche Gestalt löste sich von der Frau, und die Frau sank zu Boden.
    »Mas!«, brüllte Dunn. »Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht Hector Mas ist! Schnappt den Halunken, haltet ihn!«
    Und dann war die Jagd in vollem Gang. Die Gestalt rannte mit weiten Sätzen davon. Ihre Verfolger hatten sich verteilt und bemühten sich, ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Maria Tapley hatte sich von ihrem Schrecken erholt und lief, dicht gefolgt von der ehemaligen Gouvernante, auf die reglos am Boden liegende Flora zu. Der Geistliche hastete mit wehenden Rockschößen hinter ihnen her, das Gebetbuch fest an die Brust gedrückt und verzweifelt darum bemüht, einen Rest an Würde zu bewahren. Ich sah mich nach Victorine um und stellte fest, dass sie ebenfalls rannte, allerdings nicht in die gleiche Richtung wie alle anderen, sondern in die entgegengesetzte.
    Ich raffte meine Röcke und machte mich an die Verfolgung. Ich wusste nicht, wohin sie wollte oder warum, und es war niemand da, der mir hätte helfen können und ihr den Weg abschneiden. Ich bemühte mich nach Kräften, setzte über Gräber hinweg und lief über freie Rasenflächen. Sie wusste, dass ich hinter ihr war. Sie blickte sich einmal zu mir um, dann rannte sie weiter.
    Ich war jünger als sie und besser in Form und holte Stück für Stück auf. Als sie das erkannte, bückte sie sich im Laufen, packte eine kleine marmorne Vase von einem Grab, wirbelte herum und schleuderte sie mit der Kraft und Genauigkeit

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