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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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Hintertür gesichert – sie führt von der Küche nach draußen. Mir scheint, Sir, dass der Schurke wohl dort hinaus entkommen ist und höchstwahrscheinlich auch durch diese Tür ins Haus eingedrungen ist! Ich habe alle Fenster im Erdgeschoss überprüft. Keines wurde gewaltsam geöffnet.«
    »Die Frage, wie er ins Haus gekommen ist, bedarf als erste einer Antwort!«, raunte ich Harper zu, als wir die Treppe hochstiegen. »Doch wenn es nur dieses eine Mädchen im Haushalt gibt und sie die Küchentür offen gelassen hat, so wäre es nicht besonders schwierig gewesen.«
    Wir hatten das Zimmer im ersten Obergeschoss erreicht, in dem der arme Tapley lag. Obwohl ich ihn bereits gesehen und mich innerlich gewappnet hatte, war es immer noch ein grausiger Anblick.
    Ich habe mit mehr Mordfällen zu tun gehabt, als mir lieb ist. Nach meiner Erfahrung ereignen sie sich zumeist am unteren Rand der Gesellschaft. Männer töten andere Männer bei Kneipenschlägereien. Sie erschlagen ihre unglücklichen Ehefrauen in Anfällen von betrunkener Gewalttätigkeit. Die Motive sind manchmal banal und stehen in keinem Verhältnis zu der verübten Gewalttat. Kürzlich habe ich den Mord an einem Pfandleiher untersucht, der in seinem eigenen Geschäft umgebracht wurde, von einem Kunden, der den Ehering seiner Mutter nicht auslösen konnte, weil er das nötige Geld nicht aufgebracht hatte. Also hatte er beschlossen, sich den Ring auf direktem Weg zurückzuholen. Ich habe Leute wegen einer kleinen Lebensversicherung morden sehen. Das Leben ist hart für die Leute auf der Straße und nur wenig besser für arme Arbeiter. Die Versuchung ist allgegenwärtig. Die mittleren Schichten sind alles in allem subtiler im Umgang mit einem Problem oder einem Hindernis. Sie können sich Anwälte leisten, die ihre Interessen vor Gericht vertreten, und sie sind besorgt um ihren Ruf. Natürlich gibt es auch in ihren Häusern Gewalt. Anzeichen dafür habe ich immer wieder gesehen. Doch diese Fälle landen selten vor Gericht, weil die Betreffenden sich mit fanatischem Eifer um ihren guten Namen sorgen. Die misshandelte Ehefrau schwört, dass sie gegen einen Bettpfosten gelaufen ist. Das misshandelte Dienstmädchen wird mit Geld und Schlägen ruhiggestellt. Doch ein Mord kann nicht so leicht vertuscht werden. Mord ist ein Makel, von dem man sich nicht ohne Weiteres reinwaschen kann. Die Polizei lässt sich nicht mit einem entschiedenen »Nicht heute, danke sehr« von einer Morduntersuchung abbringen. Es ist die Seltenheit, mit der sich ein Vorfall wie Mord in einem Umfeld wie diesem ereignet, die ihn besonders schockierend macht. Und dieses Mal auch noch in einem friedlichen Quäkerheim! Das Ganze barg eine tragische Ironie in sich.
    Thomas Tapley, der gelehrte Einsiedler, mochte heruntergekommen gewesen sein, doch nach Meinung aller war er, wie es schien, ein Gentleman gewesen. Er hatte vermutlich nicht damit gerechnet, auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden. Genauso wenig hatte ich erwartet, jemanden wie ihn erschlagen in seinem Salon vorzufinden. Ich ermahnte mich innerlich, mit dem Philosophieren aufzuhören und stattdessen mit den praktischen Details weiterzumachen.
    Der arme Kerl lag genauso da, wie ich ihn vorhin zurückgelassen hatte, als ich zum Yard gefahren war. Er lag mit ausgestreckten Gliedmaßen auf der Seite, das Gesicht dem Herd zugewandt. Doch falls er vor seinem Tod in diese Richtung geblickt hatte, so hatte er bestimmt keine Flammen gesehen. Auf dem Kaminrost brannte kein Feuer, und es gab kein Anzeichen, dass der Kamin heute irgendwann befeuert worden war. Der eiserne Kasten unter dem Kaminrost zeigte keine Spur von Asche. Tatsächlich war der Raum eiskalt, so dass sich mir die Vermutung aufdrängte, das Zimmer könnte womöglich wochenlang nicht geheizt worden sein. Ich spürte die Kälte durch meine Jacke hindurch. Ich wunderte mich, wie man in einem derart kalten Raum sitzen und lesen konnte und warum der Mieter nicht um ein Feuer gebeten hatte. Hatte er dafür womöglich einen Aufschlag zahlen müssen?
    Tapleys Mund und Augen waren geöffnet, und in seinen Gesichtszügen war noch das Erstaunen über das Geschehene zu lesen. Sein Hinterkopf war eine einzige blutige Masse. Kopfwunden bluten heftig, weshalb sich unter dem Kopf des Toten eine Lache aus Blut und Gehirnflüssigkeit gebildet hatte. Der Teppich war blutdurchtränkt. Das Opfer war von kleiner Statur, und der Tod schien es noch mehr schrumpfen zu lassen, eine winzige, hilflose

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