Ein guter Blick fürs Böse
Gestalt. Es zu überwältigen konnte nicht besonders schwer gewesen sein, doch es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Ich vermutete, dass Tapley in dem Buch gelesen hatte, welches aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben und blutbefleckt neben ihm lag. Sein Widersacher hatte leise die Tür geöffnet, sich dem völlig ahnungslosen Leser von hinten über den Teppich genähert und zugeschlagen …
Das Kaminbesteck gehört zu den ersten Dingen, die bei solchen Anlässen überprüft werden, doch die Garnitur neben dem sauber gefegten Kamin schien vollständig zu sein – Schürhaken, Schaufel, Zange – und nichts davon blutverkrustet. Der Mörder hatte seine eigene Waffe mitgebracht und, wie es aussah, auch wieder mitgenommen. Hier handelte es sich nicht um einen aufgescheuchten Dieb. Hier war jemand am Werk gewesen, der mit nichts weniger als der Absicht zu töten gekommen war. Doch warum um alles in der Welt sollte irgendjemand gegenüber einem harmlosen kleinen Burschen wie Tapley Mordabsichten hegen?
Biddle hatte beim Anblick der Leiche schnaufend die Luft eingezogen und war blass geworden, doch auf meinen fragenden Blick hin gab er mir ein Zeichen, dass er zurechtkam.
»Gehen Sie runter in die Küche und befragen Sie die Magd Jenny«, wies ich ihn an. »Fragen Sie insbesondere, ob es heute irgendwelche Besucher gegeben hat, und das schließt Besuche in der Küche ausdrücklich mit ein.«
Potentielle Diebe, die mit Dienstboten anbandelten, um sich Zutritt zu verschaffen, waren nicht gerade selten, und es war unerlässlich, dieser Möglichkeit nachzugehen. Durchaus denkbar, dass Jenny nicht zugeben wollte, einen Verehrer gehabt zu haben. Doch möglicherweise war sie Biddle gegenüber offener, da er ungefähr in ihrem Alter war.
Dr. Harper war zu der Leiche gegangen und beugte sich über den Toten. »Eine üble Sache«, brummte er.
Während er den Toten untersuchte, sah ich mich sorgfältig im Zimmer um. Dies hier war nach den Worten seiner Wirtin der Salon gewesen. Es war ein kleiner Raum, gerade groß genug für einen einzelnen Mann, um sich darin wohlzufühlen. Erneut wunderte ich mich über das Fehlen eines wärmenden Feuers. Möglicherweise gab es eine Absprache, dass er seiner Wirtin nach dem gemeinsamen Abendessen im geheizten Salon Gesellschaft leisten konnte.
Das hervorstechendste Möbelstück war ein vollgestopfter Bücherschrank. Wahllos griff ich hinein und nahm einige Bücher hervor. Die meisten waren recht abgegriffen, und ihr Zustand legte die Vermutung nahe, dass Tapley sie gebraucht erstanden hatte. Es gab einige Romane und Gedichtbände, doch die meisten behandelten eine Fülle praktischer Themen: Gesundheit, Gesetze, Geschichte, Reisen … Es gab zahlreiche Notizen an den Rändern, alle in derselben, kleinen, krakeligen Handschrift. Ich würde Mrs. Jameson fragen, ob sie die Schrift als die ihres Untermieters identifizieren konnte, was vermutlich der Fall war. Tapleys Interessen waren vielfältig und akademisch gewesen. Hatte er einige dieser Bücher schon bei seinem Einzug mitgebracht? Oder hatte er alle erst in den letzten sechs Monaten gekauft?
Ich ließ Harper mit seinen Untersuchungen allein und ging in das benachbarte Zimmer. Mrs. Jameson hatte gesagt, dass Tapley die beiden straßenseitig gelegenen Zimmer bewohnt hatte, also war dies wohl sein Schlafzimmer. Ein Waschtisch mit Marmorplatte, dazu Waschschüssel und Wasserkrug und eine mit Vergissmeinnicht bemalte Rasierschale. Das Bett war ordentlich gemacht. Auf einem kleinen Tisch daneben gab es ein weiteres Buch, außerdem einen Kerzenhalter und eine Ablageschale aus Porzellan. Ich öffnete den Kleiderschrank und sah als einzigen Inhalt Tapleys Mantel sowie einen leeren, abgewetzten Reisekoffer auf dem Boden. Als ich die Schubladen einer Kommode aufzog, fand ich lediglich ein paar Taschentücher, ein zweites Hemd, ein Paar lange Wollunterhosen und einige Strickstrümpfe. Mr. Tapley war mit leichtem Gepäck gereist.
Ich wandte mich wieder dem Buch auf dem Nachttisch zu und schlug es auf, um nachzusehen, ob es ein Gebetbuch war. Doch es handelte sich um eine Übersetzung von Goethes Reisen in Italien. Mir fiel auf, dass sich zwischen all den Büchern keine religiösen Schriften befunden hatten. Der Untermieter hatte sich also nicht wegen seines tiefen persönlichen Glaubens zu einem Quäkerhaushalt hingezogen gefühlt.
Langsam fing Tapleys Persönlichkeit an mich zu faszinieren. Seine spärlichen Besitztümer ließen auf einen
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