Ein guter Blick fürs Böse
nicht lange tot«, sagte ich.
»Nein, Sir. Es dauert einige Stunden, bis die Leichenstarre so weit fortgeschritten ist, dass alle Muskeln vollständig versteift sind. Ich wage zu behaupten, dass der unglückliche Mann noch nicht lange tot gewesen sein kann, als Sie ihn das erste Mal in Augenschein genommen haben. Um welche Uhrzeit war das?«
»Kurz nach halb acht.« Mein Verstand ging in rasendem Tempo alle möglichen Optionen durch, allesamt unerfreulich, und ich wusste, dass in meiner Stimme ein düsterer Unterton mitschwang.
Harper zog seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. »Mittlerweile ist es fast halb zehn. Folglich muss der Tod irgendwann zwischen fünf und dem Zeitpunkt, wo Sie ihn fanden, eingetreten sein, nicht wahr? Oder vielmehr dem Zeitpunkt, wo das Dienstmädchen ihn fand, etwa gegen Viertel nach sieben.«
Ich hoffte, dass Biddle gründliche Arbeit leistete bei der Befragung des Mädchens.
Jemand war innerhalb dieser kurzen Zeitspanne in das Haus eingedrungen, hatte Tapley getötet und war ungesehen wieder hinausgeschlüpft. Möglicherweise, stellte ich mit Erschrecken fest, hatte er sich noch im Haus versteckt, als ich dieses Zimmer betreten hatte. Er war geflohen, während ich hier gewesen war, in diesem Raum, und mir sein Werk angesehen hatte! Mrs. Jameson und Lizzie hatten sich unten im Salon aufgehalten, und Jenny war in unserem Haus in Bessies Obhut gewesen. Der Mörder konnte das Haus völlig ungehindert verlassen haben, ohne von mir daran gehindert zu werden! Ich hätte alles absuchen müssen! Womöglich wäre ich zu spät gewesen, und er war bereits verschwunden. Doch vielleicht hätte ich ihn stellen können, und selbst wenn er mich zu Boden geschlagen hätte und geflohen wäre, so hätte ich ihn zumindest vor Augen gehabt und gewusst, wie er aussah.
Harper blickte mich fragend an. Ich wage zu behaupten, dass er genau wusste, was in meinem Kopf vorging.
»Sie möchten sich bestimmt auf den Weg machen, Doktor«, sagte ich zu ihm. »Vielen Dank, dass Sie so unverzüglich mitgekommen sind.«
Er nickte. »Ich veranlasse, dass der Leichenwagen kommt und den Toten abholt.«
Wir stiegen die Treppe hinunter und schüttelten uns die Hand, bevor der Arzt ging. Im Salon fand ich Lizzie und Mrs. Jameson in lebhafter Unterhaltung vor. Irgendwann würde der Witwe dämmern, dass sich der Mörder vielleicht noch im Haus aufgehalten hatte, als sie Jenny losgeschickt hatte, um mich zu holen. Doch so weit war es noch nicht. Ich fragte sie, ob sie über den Tag hinweg Besuch gehabt hatte, vor allem am Nachmittag. Sie schüttelte verneinend den Kopf und bestand darauf, dass es ein ruhiger Tag gewesen sei und niemand da gewesen war. Es sah mehr und mehr danach aus, als hätte sich der Mörder tatsächlich durch die Küche Zutritt verschafft. Doch ich musste sicher sein.
»Ihr Mieter hat die beiden straßenseitigen Zimmer im Obergeschoss bewohnt«, sagte ich. »Falls er aus dem Fenster geblickt hat und einen möglichen Besucher bemerkt hat, der sich dem Haus näherte, hätte er selbst die Treppe hinuntergehen und die Tür öffnen können? Und ihn mit nach oben nehmen können, ohne Ihr Wissen oder das Ihres Mädchens?«
Sie räumte ein, dass die Möglichkeit bestand. Sie hatte stets viel zu tun. Müßiggang war des Teufels Ruhebank. Sie erledigte ihre Näh- und Flickarbeiten im hinteren kleinen Wohnzimmer, wo sie auch ihre Briefe schrieb. Jenny zündete den Kamin im vorderen Salon während der Wintermonate erst um fünf Uhr nachmittags an, außerdem an kalten Abenden wie heute.
Ich kam nicht umhin, das fehlende Feuer im Zimmer des Verstorbenen zu erwähnen.
Sie beeilte sich, eine Erklärung abzugeben. Der Wohnraum im ersten Stock war bereits seit drei Wochen nicht mehr beheizt worden, seit das milde Wetter eingesetzt hatte. Es sei Tapleys eigener Wunsch gewesen, das Feuer im Kamin erkalten zu lassen.
»Ich habe ihn mehr als einmal gebeten, nicht unnötig in der Kälte zu frieren«, berichtete sie. »Sehen Sie, ich hatte den Eindruck, dass er es gewöhnt war, zu sparen, und dass er deshalb nicht um ein Feuer gebeten hat, nachdem der Winter ja vorbei ist. Ich lud ihn ein, sich ab fünf Uhr gerne jederzeit an das Feuer in diesem Salon zu setzen, doch die kühleren Abende schienen ihm nichts auszumachen, und weil Jenny mehr als genug zu tun hat, gestehe ich, ihn nicht weiter bedrängt zu haben. Jenny muss dieses Feuer hier beaufsichtigen und mir beim Zubereiten des Abendessens zur Hand
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