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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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könnten.
    »Inwiefern?«, hatte Ben gefragt.
    »Vielleicht könnte man ihn in einem Handwerk ausbilden.«
    »Kein Handwerker würde ihn aufnehmen«, entgegnete Ben. »Obwohl er die richtige Statur hätte, um einen Kamin hochzuklettern.«
    Daraufhin ließ ich mich empört über die Missstände aus, unter denen die Kletterjungen leiden mussten. Ben entgegnete, dass er selbst auch als Junge in den Minen von Derbyshire gearbeitet hatte. »Ich musste stundenlang in der kalten Dunkelheit hocken, in ständiger Angst vor Ratten und davor, am Ende der Schicht vergessen zu werden und für alle Zeiten dort unten gefangen zu sein! Wäre nicht die Großzügigkeit deines Vaters gewesen, ich wäre heute noch in der Mine und würde nach Kohle schürfen.«
    »Dann solltest du Kohlenhaus-Joey gegenüber etwas mehr Mitgefühl zeigen«, folgerte ich.
    »Aber ich zeige Mitgefühl!«, erwiderte Ben. »Ich habe ihn zweimal erwischt, wie er aus unserem Kohlenhaus gekrochen kam und ihn nicht wegen Einbruchs oder unbefugten Betretens festgenommen. London ist voll von streunenden Kindern, Lizzie. Du kannst dich nicht um alle kümmern.«
    So war Joey zu seinem Spitznamen gelangt. In kalten, nassen Nächten kroch er in die Kohlenhäuser der Leute oder in ihre Keller. Seine kleine Gestalt passte durch schmalste Lücken und winzige Fenster. Es war ein Wunder, dass die Einbrecherinnung noch nicht versucht hatte, sein Talent für ihre Zwecke auszunutzen. Joey verschwand stets bei Tagesanbruch, und außer einem Abdruck seiner kleinen Hand oder seiner Füße im Kohlestaub wies nichts darauf hin, dass er da gewesen war. Er stahl nichts aus den Häusern, in denen er heimlich nächtigte, und Hauseigentümer wie Dienstmädchen zuckten nur die Schultern. »Es war nur Kohlenhaus-Joey«, sagten sie. Vielleicht wurde er irgendwann in der Zukunft zu einer Legende ähnlich Willow dem Waldlicht oder – falls er einen übleren Ruf erlangte – ähnlich Springfeder-Jack. (Ben hatte mir erzählt, dass die Polizei von Zeit zu Zeit immer noch Meldungen erhielt, dass diese seltsame Gestalt gesehen worden wäre.)
    Wie dem auch sei, auf dem Weg nach Hause hatte ich ein paar Äpfel gekauft. Ich nahm einen davon aus meinem Korb und hielt ihn Joey hin. Der Knabe näherte sich mit leuchtenden Augen. Doch nicht unähnlich einem wilden Tier wollte er den Apfel nicht aus meiner Hand annehmen. Also legte ich ihn auf den Bürgersteig. Joey sprang blitzschnell vor, packte ihn mit festem Griff und zog sich wieder zurück. Er starrte mich unter einem Schopf verfilzter Haare hervor aus großen, dunklen Augen an und murmelte seinen Dank.
    »Ich habe dich einige Tage nicht gesehen, Joey«, sagte ich.
    »Der alte Butcher ist hinter mir her.« Ich war überrascht ob seiner klaren, deutlichen Aussprache.
    »Du meinst Constable Butcher?«
    »Jepp, aber er kriegt mich nicht. Er kann nicht rennen. Er ist zu fett.«
    »Möglicherweise erwischt er dich eines Tages doch, Joey. Warum gehst du nicht zum Armenhaus? Dort würde man dich aufnehmen.«
    »Ich gehe in kein Armenhaus!«
    »Du würdest dort Essen bekommen.«
    »Ich krieg auch so Essen.« Er hielt den Apfel hoch. »Sehen Sie? Manchmal geben mir die Leute Brot. Ich klapper die Hintertüren der Lokale ab. Einige Köche kennen mich. Sie lassen mir das Essen, das aus dem Speisesaal zurückkommt. Was die Leute auf dem Teller gelassen haben, wissen Sie? Die Leute lassen es einfach zurückgehen. Manchmal ’ne ganze Kartoffel, Fett vom Fleisch, Bratensoße …« Bei dem Gedanken an all die Leckerbissen bekam Joey sehnsüchtige Augen. »Wie auch immer«, fügte er unvermittelt hinzu. »Ich brauch kein Armenhaus.«
    Er blinzelte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Da hat es einen Mord in Ihrer Straße gegeben«, sagte er.
    »Oh, du hast also davon gehört, ja?«, fragte ich überrascht.
    »’türlich hab ich das. Ich weiß über alles Bescheid, was ringsum passiert. Soweit ich gehört hab, war es ein kleiner alter Kerl, den es da erwischt hat.« Er sah mich erwartungsvoll an.
    Mir wurde klar, dass sich gerade eine Art Geschäft entwickelte. Ich hatte Kohlenhaus-Joey einen Apfel gegeben. Er wollte sich erkenntlich zeigen – oder sich auch zukünftig kleine Lebensmittelgeschenke sichern –, indem er mir im Gegenzug auch etwas anbot.
    »Das ist richtig. Sein Name ist, oder vielmehr war, Mr. Tapley. Mr. Thomas Tapley.«
    »Den Namen kenn ich nicht«, entgegnete Joey. »Ich weiß nur, dass er jeden Tag rausgegangen ist, selbst wenn es

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