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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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war nur eine Sache sicher: Wer auch immer Tapley gewesen war, Trinkgeld hatte er nie gegeben. Daran hätten sie sich erinnert.
    »Er zog häufig um und wechselte die Lokale«, sagte ich missmutig zu Superintendent Dunn, als ich gegen Feierabend über den Mangel an Fortschritten Bericht erstattete. »Wenn Sie mich fragen, so wollte er nicht auffallen und Fragen aus dem Weg gehen.«
    Dunn lehnte sich in seinem Sessel zurück und strich sich mit der Hand durch das kurze graue Haar. »Warum sollte er?«, erwiderte er.
    »Entweder wollte er niemandem Rechenschaft abgeben … oder er bemühte sich, keine Spuren zu hinterlassen.«
    »Sie denken, er hat sich versteckt?«, überlegte Dunn. »Das ist es! Wie ich bereits sagte, er war auf der Flucht.«
    »Es wäre möglich, Sir. Wie man es auch dreht und wendet, dieser Mann hatte ein Geheimnis.«
    »Dann finden Sie heraus, was das für ein Geheimnis war, Ross!«, entgegnete Dunn mit der ernsten Gelassenheit eines Mannes, der die Arbeit nicht selbst tun musste.

KAPITEL SECHS
    Elisabeth Martin Ross
    In der vorangegangenen Nacht hatte ich versucht, so lange wie möglich wach zu bleiben und auf Bens Rückkehr zu warten. Doch nachdem ich fortwährend in meinem Sessel eingenickt war, hatte ich mich schließlich in mein Bett geschleppt. Am Morgen fand ich meinen Ehemann im gleichen Sessel vor dem mittlerweile kalten Kamin schlafend. Nach so einer unruhigen Nacht war es nicht weiter überraschend, dass es Bessie und mir am nötigen Schwung mangelte, unseren gewohnten morgendlichen Aufgaben nachzugehen. Ich verabschiedete Ben, der Mrs. Jameson und Jenny nach Hause begleitete. Ich fragte mich, wie er die Ermittlungen durchstehen wollte – die allem Anschein nach anstrengend zu werden versprachen –, wenn er die meisten Nächte keinen Schlaf fand.
    Ich schickte die gähnende Bessie zum Fleischer Hammelkoteletts kaufen. Nicht ohne sie zuvor zu ermahnen, sich nicht beim Tratsch über die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu vertrödeln, sondern umgehend wieder nach Hause zurückzukehren. Ich selbst machte mich auf den Weg zu einer Spitzenklöpplerin, um zu sehen, welche Fortschritte sie mit den bei ihr in Auftrag gegebenen Kragen und Manschetten machte, von denen ich hoffte, dass sie ein unscheinbares Kleid ein wenig aufbessern würden. Mein Weg führte mich am Terminus der Eisenbahn in Waterloo vorbei. Hier herrschte stetes Gedränge, und ich wusste, dass ich auf meinen Geldbeutel aufpassen musste. Es war reiner Zufall, dass ich auf dem Rückweg von der Spitzenklöpplerin Kohlenhaus-Joey erspähte.
    Joey vermied es normalerweise, Aufmerksamkeit zu erregen. Aufmerksamkeit bedeutete, soweit es ihn betraf, stets Ärger. Landstreicherei war strafbar. Doch ich bemerkte eine flüchtige Bewegung aus den Augenwinkeln, und da war er, hastete die Straße entlang, immer im Schatten der Mauern, wie es Ratten oder streunende Katzen getan hätten.
    Er hielt sich stets tief geduckt, um nicht die Aufmerksamkeit von Ladeninhabern oder patrouillierenden Ordnungskräften auf sich zu ziehen. Spontan rief ich seinen Namen. Ich befürchtete schon, er würde in die nächste Gasse flüchten und im Labyrinth der Höfe und Gassen dahinter untertauchen, doch er zögerte und beäugte mich misstrauisch.
    »Ich bin es, Mrs. Ross. Du kennst mich doch, Joey!«, rief ich und winkte ihm zu.
    Bessie wäre nicht damit einverstanden gewesen. »Sie sollten sich von ihm fernhalten, Missus«, hatte sie mir bei etlichen Gelegenheiten gesagt. »Sie fangen sich irgendwas ein, wenn Sie ihm zu nah kommen. Er ist voller Läuse und Nissen, und die Wäscherkrätze hat er auch. Außerdem stinkt er fürchterlich.«
    Sie hatte Recht, zumindest was den Geruch anging. Ein strenger Hauch wehte mir entgegen, als Joey sich näherte. Ich bezweifelte, dass er jemals gebadet hatte oder auch nur mit Wasser in Berührung gekommen war; die hieraus resultierende bräunlich-graue Schicht überzog seine Haut wie eine Schutzschicht. Es war nur schwer vorstellbar, wie er bisher überlebt hatte oder welches arme Ding ihn in die Welt gesetzt hatte. Er war noch ein Kind an Jahren und Gestalt, doch was Erfahrungen betraf, war er ein alter Mann. Sein dürrer Leib steckte in einer zusammengewürfelten Mischung verdreckter Lumpen. Er hatte spitze Zähne wie ein Tier und ein paar davon bereits verloren. Als mir zum ersten Mal klar geworden war, dass er in unserer Nachbarschaft lebte, hatte ich Ben gefragt, ob wir nicht irgendetwas für ihn tun

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