Ein guter Blick fürs Böse
geht’s die Straße runter, geradewegs auf die Brücke zu.«
Das war tatsächlich eine ebenso merkwürdige wie geheimnisvolle Angelegenheit! »Der Besucher ist nicht wiedergekommen, Joey?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn zumindest nicht mehr gesehen. Auch die Kutsche nicht. Ich hab danach Ausschau gehalten, weil ich die Pferde noch mal sehen wollte.«
»Joey«, sagte ich ernst, »das alles wird meinen Mann interessieren. Es geht um einen Mord, und sämtliche Informationen sind äußerst wichtig. Würdest du heute Abend zu mir nach Hause kommen und Inspector Ross erzählen, was du mir erzählt hast?«
Doch das war mehr verlangt, als der Apfel wert war. »Ich red nicht mit Bullen!«, sagte Joey mit Nachdruck. »Nicht mal, wenn sie in Zivil sind wie Ihr Macker.«
Und mit diesen Worten rannte er davon und war kurz darauf verschwunden.
Ich eilte in unsere Straße zurück und zum Haus der Witwe Jameson. Wie ich am verkratzten Holz um den Bereich des Schlosses in der Haustür erkennen konnte, war der Schlosser inzwischen da gewesen und hatte seine Arbeit gemacht. Doch auch nach mehrfachem Betätigen des Türklopfers erschienen weder Ben noch Morris, um mir zu öffnen, obwohl Ben mir von seinem Vorhaben erzählt hatte, Morris mitzunehmen, damit er ihm bei der Durchsuchung von Thomas Tapleys Zimmern half. Ich wanderte sogar die enge Passage entlang, die mich zum Hinterhof brachte, doch die einzigen Lebenszeichen kamen von Mrs. Jamesons Hühnern, die munter pickend in ihrem Verschlag herumliefen.
Die Hintertür war von innen gesichert, und ein Blick durch die Scheibe zeigte nichts außer dem Küchenherd. Möglicherweise waren die beiden Männer schon wieder gegangen, und ich hatte sie um ein paar Minuten verpasst.
Ich sah mich im Hof um. Es war nicht schwer, sich hier hereinzuschleichen, so wie ich es getan hatte. Zu warten, bis Jenny die Küche verlassen hatte, um dann unbemerkt das Haus zu betreten und eine Schandtat zu verüben. Doch Tapleys früherer Besucher war nicht auf diesem Weg gekommen. Offensichtlich hatte er eine Verabredung mit Tapley gehabt, vorbeizukommen, sobald Mrs. Jameson das Haus verlassen hatte. Er hatte auf der anderen Straßenseite gewartet. Tapley hatte am Fenster nach ihm Ausschau gehalten und ihn zur Vordertür hereingelassen. Warum hatte der Besucher den riskanten Weg genommen und sich nicht hintenherum hereingeschlichen, wie es der Mörder vermutlich getan hatte? Wahrscheinlich lag es daran, dass der Besucher mit einer privaten Kutsche gekommen war. Jemand wie er dachte vermutlich nicht einmal im Traum daran, den Dienstboteneingang zu nehmen, geschweige denn eine öffentliche Droschke zu benutzen. Tapleys junger Besuch war anscheinend ein Mann mit finanziellen Mitteln.
Ich schob meine Überlegungen beiseite. Ben musste so schnell wie möglich von Kohlenhaus-Joeys Geschichte erfahren, nicht erst am Abend, wenn er nach Hause kam. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als eine Droschke zu nehmen und mich auf dem schnellsten Weg zum Scotland Yard zu begeben.
Es erschien mir logisch, zum nahegelegenen Bahnhof zu laufen und dort am Stand auf eine passende Kutsche zu warten. Ich benötigte eine geschlossene Kutsche, da ich alleine unterwegs und mir sehr wohl bewusst war, dass sich nur Frauen von zweifelhaftem Ruf allein in einem offenen Zweispänner umherfahren ließen. Tatsächlich war eine Droschke frei und wartete auf einen Fahrgast. Als ich mich näherte, löste sich der Kutscher, der sich ein Stück abseits mit Kollegen unterhalten hatte, in Erwartung des möglichen Fahrgasts aus der Gruppe und kam auf mich zu. Im gleichen Moment erkannten wir einander.
»Wenn das nicht Mr. Slater ist?«, rief ich aus. Die ramponierte Gestalt des ehemaligen Preisboxers ließ keinen Zweifel zu.
»Hallo!«, entgegnete der Kutscher. Er grinste breit und offenbarte dabei mehrere abgebrochene Zähne. »Na, das ist doch Miss Martin, wenn ich nicht irre! Warum rennen Sie denn auf dem Bahnhof rum? Ich hoffe doch, Sie halten nicht Ausschau nach Leichen?« Es war als Witz gemeint, mit dem er an unsere erste Begegnung bei meiner Ankunft in London erinnern wollte. Er kicherte heiser.
»Zufälligerweise ja, Mr. Slater. Es hat einen Mord gegeben, und ich muss schnell zum Scotland Yard. Oh, und ich heiße jetzt Mrs. Ross, und mein Mann ist Inspector bei Scotland Yard.«
Er warf mir einen ernsten Blick zu. »Ach, tatsächlich? Nun, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Heirat und hoffe, dass Sie genauso
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