Ein guter Blick fürs Böse
anderen Kerl überrascht, in einer, wie es so schön heißt, kompromittierenden Situation. Niemand wollte es der Mutter erzählen, und sie dachte, er hätte eine gewöhnliche Dummheit begangen, zum Beispiel ein Dienstmädchen verführt oder etwas in der Art. Es war nicht weiter schwer, sie in diesem Glauben zu lassen und dass das Mädchen Schweigegeld bekommen hatte. Sie war eine von jenen Frauen, die stets akzeptieren, was man ihnen sagt. Aber Tapley – es war kein Dienstmädchen, mit dem er sich vergnügt hatte … Es waren Knaben!«
Nun, dachte ich, Thorpe senior mag vielleicht ein Problem mit dem Gehör haben, aber mit seinem Gedächtnis war ganz sicher nichts verkehrt.
Der alte Thorpe wandte sich zu mir und sprach mit leiser Stimme. »Was mein Vater über den Grund für Tapleys Abreise aus England erzählt, entspricht der Wahrheit. Obwohl die Nachricht, dass er in Ungnade gefallen war, nicht vertuscht werden konnte, so wussten doch nur sehr wenige Leute hier in Harrogate den wahren Grund für den Skandal, oder falls sie es wussten, redeten sie nicht darüber. Seine Mutter hat es nie erfahren, bis zu ihrem Tod nicht.«
»Aber Ihr Vater scheint bestens informiert zu sein?«, warf ich ein.
»Was war das?«, brüllte Thorpe senior hörrohrschwingend.
»Inspector Ross sagt, dass du die Wahrheit gewusst hast, Großvater!«, brüllte Fred Thorpe.
»Wie denn auch nicht? Sein Onkel kam her zu mir und informierte mich, dass die Sache möglicherweise vor Gericht gehen würde, sollte die Wahrheit ans Licht kommen, und dass er einen Anwalt nehmen wollte. Ein ernstes Verbrechen. Damals unter Todesstrafe verboten. Doch es kam nicht so weit. Alles wurde vertuscht, zum Besten aller. Thomas Tapley war nicht der Erste, und er wird nicht der Letzte gewesen sein.«
»Tom hat später sogar geheiratet«, sagte Freds Vater zu mir, bevor er sich an seinen eigenen Vater wandte und die Worte fortissimo wiederholte: »Später hat er geheiratet!«
»Das Klügste, was er tun konnte!«, sagte Thorpe senior. »Ich hatte es ihm dringend geraten. Ein Landbesitzer Anfang vierzig, gesund an Leib und Geist, der keine Anstalten machte, sich um einen Nachfolger und Erben zu bemühen … die Leute fingen schon wieder an zu reden. ›Sucht ihm eine Frau!‹, sagte ich. Also hat er eine von Alexander Sanders Töchtern geheiratet, die schlichtere von beiden«, erklärte Thorpe senior genüsslich. »Sie schielte zu allem Überdruss.«
»Tom und seine Frau hatten eine gemeinsame Tochter, Großvater!«, rief der junge Fred.
»Ich bin überrascht, dass er so was zustande gebracht hat. Schielt sie auch?«, fragte der alte Bursche interessiert.
»Nein, Mr. Thorpe«, unternahm ich es diesmal, die Antwort zu brüllen. »Ich habe die junge Lady kennengelernt, Miss Flora Tapley. Sie ist im Gegenteil sehr attraktiv.«
Thorpe senior brummte und sank zwischen seinen Karotüchern zusammen.
»Mrs. Tapley verstarb, Sir, und Miss Flora wurde von Mr. Jonathan Tapley und seiner Frau aufgezogen.« Ich stellte fest, dass ich inzwischen jedes Wort brüllte.
»Ein gerissener Bursche, der junge Jonathan Tapley«, murmelte Thorpe senior. »Ist nicht auf den Kopf gefallen, ganz und gar nicht. Tom hingegen war immer ein Träumer. Kam wahrscheinlich nach seiner Mutter.«
»Er ging ins Ausland, Großvater, nach Frankreich!«
»Das Vernünftigste, was er tun konnte, wenn du mich fragst«, murmelte Thorpe senior.
Um anschließend beunruhigenderweise einfach einzuschlafen.
»Es ist schon sehr spät für meinen Großvater«, entschuldigte sich der junge Thorpe.
Nach meinem geschäftigen Tag war es auch für mich spät geworden. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich bei allen für ihre Gastfreundschaft und Hilfe zu bedanken, und verlieh meinem Vergnügen Ausdruck, sie kennengelernt zu haben. Ich schüttelte Fred Thorpe und seinem Vater die Hand. Großvater Thorpe schnarchte leise unter seinen Karotüchern vor sich hin, daher bat ich den jungen Thorpe, ihm später meine besten Wünsche auszurichten.
»Morgen hat er wahrscheinlich schon wieder vergessen, dass Sie hier waren«, erwiderte Fred Thorpe melancholisch.
»Ich hatte eigentlich den Eindruck, dass sein Erinnerungsvermögen ausgesprochen klar ist.«
Fred lächelte und schüttelte den Kopf. »Er erinnert sich an die Dinge, die vor Jahren passiert sind. Aber was gestern war – das ist eine andere Geschichte.«
»Nun?«, fragte Sam Barnes, als er mich zum Commercial Hotel begleitete. »Können Sie etwas mit
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