Ein guter Blick fürs Böse
muss. Wenn wir heiraten würden, ginge es genauso weiter, so viel ist mir inzwischen klar geworden. Ich musste immer tun, was Onkel Jonathan und Tante Maria von mir wollten. Und wenn ich Georges Frau werde, muss ich tun, was seine Familie von mir will. Ich finde das sehr, sehr ermüdend. Was denken Sie, Mrs. Ross? Niemand fragt mich je danach, was ich mir wünsche oder gerne hätte.«
Der arme George, dachte ich. Aufgezogen mit dem Gedanken im Kopf, die Zweitbesetzung für seinen Bruder abzugeben. Auch er war niemals gefragt worden, was er sich eigentlich wünschte. Ich fragte mich, warum Edwin, der Erbe, nicht vor seinem jüngeren Bruder geheiratet oder sich auch nur verlobt hatte. Verließ er sich vielleicht auch darauf, dass George ihn von der Bürde des Titels befreite? Eine Sache schien zumindest klar. Floras Herz war alles andere als gebrochen, nachdem ihre Hochzeit stark gefährdet war. Im Gegenteil. Sie schien geradezu erleichtert angesichts der Möglichkeit, dass die Hochzeit platzen könnte.
Wir hatten den Park inzwischen einmal vollkommen umrundet und näherten uns der Bank, wo die beiden Mädchen saßen und schwatzten. Beide erhoben sich bei unserem Näherkommen. Flora signalisierte ihnen, sich wieder zu setzen, und wir begannen unsere zweite Runde. Biddy zögerte, doch Bessie redete sofort wieder auf sie ein und zwang sie, ihre Aufmerksamkeit von uns abzuwenden. Ich wusste, ich konnte mich darauf verlassen, dass Bessie das andere Dienstmädchen so lange auf der Bank festhielt wie nur irgend möglich.
»Inspector Ross schien sehr sicher, dass er den Halunken fangen wird, der meinen Papa ermordet hat«, sagte Flora nun. »Glauben Sie das auch?«
»Er tut sein Bestes, ohne Frage«, versicherte ich ihr.
»Das hat er auch gesagt. Aber ich fürchte trotzdem, dass der Täter entkommt. Mein armer Papa. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihm verbracht.«
Ein Prickeln lief mir über den Rücken.
»Als Kind, meinen Sie?«, fragte ich vorsichtig.
»Oh, ja, sicher, auch damals. Aber ich dachte mehr an die letzten Wochen und Monate, seit er nach London zurückgekehrt war. Es war nur so wenig Zeit.« Sie gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich und schniefte in ein Taschentuch. »Sieht Biddy her? Ich hoffe nicht. Sie petzt alles an Tante Maria.«
Ich war so verblüfft wegen ihrer Worte, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. »Sie wussten, dass er nach England zurückgekehrt war?«, japste ich.
Flora lief dunkelrot an und sah mit einem Mal viel jünger aus als neunzehn Jahre. »Sie sagen es niemandem, oder?«
Ich durfte nicht lügen. »Es mag notwendig sein, das ich mit Ben … mit Inspector Ross darüber spreche. Aber er ist sehr diskret, Miss Tapley. Wie haben Sie herausgefunden, dass Ihr Vater in London war, und wann?«
»Oh, erst vor Kurzem, leider, nur ein paar Wochen, bevor … bevor jemand ihn umgebracht hat. Ich wusste, dass Onkel Jonathan an Papa nach Frankreich geschrieben hatte, um sein Einverständnis zu meiner Heirat mit George einzuholen, doch seine Briefe blieben unbeantwortet. Onkel Jonathan schrieb dann an irgendwelche Anwälte in Harrogate, die Papas Angelegenheiten erledigen. Sie berichteten ihm, dass Papa nach England zurückgekehrt war, aber sie hatten keine Adresse. Sowohl Onkel Jonathan als auch Tante Maria gerieten darüber regelrecht in Panik. Doch weil Papa sich nicht bei uns gemeldet hatte, überlegten sie, dass er wohl wieder nach Frankreich zurückgekehrt war.
Ich für meinen Teil hoffte weiter, dass er eines Tages kommen und mich besuchen würde. Dann passierte es. Ich war zur Leihbücherei gegangen. Es ist ungefähr der einzige Ort, zu dem Tante Maria mich alleine gehen lässt, und jetzt darf ich nicht einmal mehr das. Wie dem auch sei, an jenem Tag war ich in der Bücherei, als ein Gentleman vor mich trat und meinen Namen sagte. ›Flora?‹, einfach so, eine Frage. Er war nicht mehr jung, und er klang nervös. Er sah ein wenig heruntergekommen aus, aber man trifft viele ältere Gentlemen in der Bücherei, die genauso aussehen, insbesondere an kalten Tagen. Aber er wusste meinen Namen, und ich blickte ihm ins Gesicht und sah, dass er mein Vater war. Ich erkannte ihn sofort, obwohl es so viele Jahre her war, dass er weggegangen war.«
Flora verstummte für einige Sekunden. »Ich war sehr bewegt, und ihm ging es genauso«, fuhr sie schließlich fort. »Er hatte Tränen in den Augen, und ich konnte mich gerade noch beherrschen, sonst wäre ich ihm um den Hals
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