Ein guter Blick fürs Böse
gefallen. Wir gingen nach draußen, damit niemand etwas bemerkte. Er erklärte, dass er nach England zurückgekehrt wäre, weil sich seine Lebensumstände in Frankreich geändert hätten.«
»In welcher Weise?«, fragte ich.
Flora runzelte die Stirn. »Das hat er nicht gesagt, und es gab so viele Dinge, die wir einander sagen wollten und so wenig Zeit, dass ich ihn nicht fragte. Er sagte, dass er sehr froh war, mich zu sehen, und dass ich so erwachsen geworden wäre. Ich fragte ihn, warum er nicht zu uns nach Hause gekommen wäre und wo er jetzt wohnte. Er antwortete, dass er Jonathan jetzt noch nicht sehen wollte. Er bat mich, weder seinem Cousin noch seiner Frau zu sagen, dass er in England war. Er musste erst etwas erledigen, sagte er. Ich fragte ihn, ob er die Briefe nicht erhalten hätte, die ihm nach Frankreich geschickt worden wären, und er sagte Nein. Ich erzählte ihm, dass ich heiraten würde. Es war ein großer Schock für ihn. Er fragte, wer denn der junge Mann wäre, und er flehte mich an, nicht zu hastig zu sein.
Wir konnten nicht länger verweilen und reden. Wir hatten beide Angst, irgendjemand könnte uns sehen und es Tante Maria oder Onkel Jonathan erzählen.«
Flora blickte über die Schulter. »Sieht Biddy zu uns?«
Ich sah zu der Bank. Bessie redete ununterbrochen, und Biddy schien ihr wie gebannt zuzuhören. Was um alles in der Welt mochte Bessie ihr erzählen? Irgendeine reißerische Geschichte über Polizeiarbeit vermutlich. Wie dem auch sein mochte, es hatte den gewünschten Effekt. Biddy hatte vergessen, dass sie hier war, um ein Auge auf Miss Tapley zu werfen.
In der Nähe stand eine weitere, unbesetzte Bank, und Flora und ich nahmen darauf Platz.
»Jedenfalls hatte ich eine brillante Idee«, fuhr Flora sichtlich befriedigt fort. »Papa wollte nicht zu uns nach Hause kommen. Ihn irgendwo anders in der Öffentlichkeit zu treffen war zu riskant. Also würde ich zu ihm fahren, ihn dort besuchen, wo er wohnte.«
»Aber wie das?«, fragte ich ungläubig. »Man hätte Sie doch gesehen?«
»Oh, nein«, widersprach Flora selbstgefällig. »Ich hatte mir etwas ausgedacht, um das zu vermeiden. Ich habe eine Freundin, Emily Waterton. Ihr Bruder ist in Eaton im Internat. Er ist fünfzehn Jahre alt, besitzt ungefähr meine Größe und ist sehr schlank. Während er in der Schule ist, bleibt ein Teil seiner Sachen zu Hause im Schrank. Also ging ich zu Emily und sagte ihr, dass ich jemandem einen Streich spielen wollte. Ich wollte mich als jungen Burschen verkleiden und Joliffe den Kutscher überreden, mich über den Fluss zu bringen in die Nähe der Gegend, wo mein Vater wohnte. Dort sollte er mit der Kutsche auf mich warten. Natürlich musste Emily ebenfalls mitkommen; alles hing davon ab, dass sie mitspielte. Joliffe hätte mich bestimmt nicht gefahren, wenn ich alleine gewesen wäre. Doch wenn Emily mitkam und in der Kutsche wartete, während ich Papa besuchte, würde Joliffe wahrscheinlich mitspielen und denken, es wäre ein Streich. Emily ist eine sehr lustige Person, und als wir noch in der Schule waren, hat sie immer Streiche ausgeheckt. Bei meinem nächsten Treffen mit Papa erklärte ich ihm meinen Plan. Wir trafen uns nicht weit von hier, bei der St Mary’s Church. Die Bücherei war uns zu riskant. Papa war im ersten Moment erschrocken, doch ich überzeugte ihn, dass es wirklich ganz einfach war. Er sagte mir, dass seine Wirtin regelmäßig an einem Nachmittag in der Woche zu einem ihrer Treffen ging. Sie war eine Quäkerin. Wenn ich kommen und draußen auf der Straße warten würde, würde er nach mir Ausschau halten. Ich sollte unter keinen Umständen an die Tür läuten kommen, weil das Dienstmädchen ›ein schwatzhaftes kleines Balg‹ war, wie er es nannte. Sie würde gewiss sehen, wenn sie mich aus der Nähe betrachtete, dass ich kein Junge war.
So machten wir es dann auch. Ich blieb nicht lang. Nur lang genug, um die Zimmer in Augenschein zu nehmen, in denen Papa jetzt wohnte. Wir redeten kurz über meine Hochzeit. Er sagte, wenn ich mir wirklich ganz sicher wäre, würde er einen Brief an seinen Cousin schreiben und seine Zustimmung erteilen – oder gleich zu Onkel gehen und alle erforderlichen Dokumente unterschreiben. Doch er wollte, dass ich sehr sorgfältig über mein Vorhaben nachdachte. ›Wenn du erst einmal verheiratet bist, meine Liebe, gibt es nichts mehr, was ich für dich tun kann. Genauso wenig wie dein Onkel Jonathan. Du bist ganz und gar deinem Mann und seiner
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