Ein guter Blick fürs Böse
setzen, haben Sie das verstanden? Sollte sie sich jedoch aus eigenen freien Stücken und ohne Aufforderung Ihnen anvertrauen, dann werden Sie dies – ganz gleich wie trivial – sofort Ihrem Mann oder einem anderen Beamten mitteilen.«
»Selbstverständlich, Sir!«, versprach ich.
Ben war überrascht, mich wiederzusehen, und alles andere als erfreut. »Es gibt hier nichts, was du tun könntest, Lizzie! Ich habe bereits mit Miss Poole gesprochen! Sie weiß nichts, was uns interessieren könnte.«
»Superintendent Dunn hielt es für eine gute Idee.«
Das brachte Ben für volle dreißig Sekunden zum Schweigen. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, Dunn um den Finger zu wickeln«, sagte er schließlich. »Aber welches Ass er auch im Ärmel haben mag oder was er dir auch immer erlaubt hat, das hier ist mein Fall und meine Ermittlung. Er hat mir die Leitung übergeben, und in dieser Eigenschaft stimme ich – nicht Dunn, sondern ich! – zu, dass du dich noch einmal mit Miss Poole unterhältst. Geh und tröste sie! Aber ich will einen vollständigen Bericht! Ich will wissen, wann sie sich geschnäuzt und wann sie sich die Augen gewischt hat!«
»Den wirst du bekommen!«, versprach ich.
Miss Poole schien wenig überrascht, mich zu sehen, und sie hatte keine Einwände, dass ich Tee für uns beide zubereitete. Sie beobachtete mich, wie ich den Samowar inspizierte und den kleinen Spirituskocher darunter anzündete.
»Es war ein Geschenk …«, sagte sie beinahe unhörbar leise.
»Der Samowar? Er ist sehr hübsch.«
»Er stammt von meiner früheren Arbeitgeberin, die mich als Hutmacherin ausgebildet hat. Sie musste aufhören, als ihre Augen zu schlecht wurden, und ich gründete mein eigenes Geschäft. Sie wünschte mir alles Gute und schenkte mir die Teekanne. Ja, sie nannte es einen Samowar. Sie hatte ihn aus ihrer Heimat mitgebracht. Ich glaube, sie kam aus Russland.« Ihre Stimme gewann an Zuversicht und wurde lauter, als sie über diesen Haushaltsartikel sprach. »Sie hat immer einen Klumpen Zucker zusammen mit den Teeblättern hineingegeben und dann heißes Wasser darübergegossen. Sie hat nie Milch im Tee getrunken, wie wir Engländer es machen. Manchmal nahm sie eine Scheibe Zitrone. Ich fürchte, ich habe weder das eine noch das andere …« Ihre Stimme versagte, und sie klang betrübt. »Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet …«
Ich brachte ihr die Teetasse. »Liebe Miss Poole, machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich nehme nur selten Milch in meinem Tee. Ich ziehe ihn ohne Milch vor.«
Sie nahm ihre Brille ab und blinzelte mich aus kurzsichtigen Augen an. Ich überlegte mitfühlend, dass die anstrengende Arbeit dicht vor den Augen, häufig bei schlechtem Licht, ihr Sehvermögen genauso beeinträchtigt hatte wie das ihrer ehemaligen Arbeitgeberin. Wenn Miss Poole gezwungen war, sich von der Hutmacherei zurückzuziehen, wovon würde sie dann leben? Hatte sie ein wenig Geld beiseitelegen können? Und falls ja, wie lange würde es reichen? Hatte sie Familie, an die sie sich wenden konnte? Ich schätzte ihr Alter auf Mitte vierzig.
Ich konnte nicht anders, ich musste immer wieder daran denken, dass mir das gleiche Leben gedroht hatte. In einem Zimmer wie diesem leben, über einem Geschäft, und mit irgendetwas den Lebensunterhalt verdienen. Tante Parry hatte mich – trotz aller ihrer sonstigen Fehler – davor bewahrt.
»Mein Mann hat gesagt, Mr. Jenkins hätte Ihnen das Wasser hier hinaufgetragen?«
»Oh ja. Er war sehr hilfsbereit. Deswegen habe ich auch gerne Tee gemacht für seine Klienten.«
»Haben Sie den Tee nach unten in sein Büro gebracht?«
»Ja, aber ich bin nie hineingegangen. Ich habe immer nur angeklopft, und dann kam er zur Tür und nahm mir das Tablett ab. Ich habe seine Besucher nicht gesehen. Er hat mir einmal erklärt, seine Arbeit wäre sehr privat. Seine Klienten, wie er sie nannte, wären häufig ausgesprochen scheu.«
Sie hatten vermutlich allen Grund dazu, dachte ich. »Sie haben die französische Lady nicht gesehen, die ihn besucht hat?«
Sie zögerte. »Er hatte nur selten weiblichen Besuch. Ich kann mir nicht vorstellen, warum eine Lady einen Privatdetektiv konsultieren sollte! Aber vor ein paar Wochen kamen eine Lady und ein Gentleman zusammen her. Ich habe sie nur von hinten gesehen, verstehen Sie, als ich das Tablett mit Tee an Mr. Jenkins’ Tür brachte. Ich habe ihre Gesichter nicht gesehen. Sie waren gut gekleidet.« Miss Pooles Stimme hatte
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