Ein guter Jahrgang-iO
zwanzig Meilen voneinander entfernt aufgewachsen, und doch trennten sie Welten. Max bildete sich ein, vor jedem Anflug von Snobismus gefeit zu sein. Amis bildete sich ein, keinerlei Komplexe zu haben. Sie irrten beide. Jeder erkannte widerstrebend die Fähigkeiten des anderen an, und so lernten sie, einander zu ertragen, mit Mühe und Not.
Während er den BMW in seinen Tiefgaragen-Parkplatz einfädelte, zerbrach sich Max den Kopf darüber, was der Grund für die heutige Besprechung sein könnte. Das Mittagessen bei Lawtons bestand normalerweise aus einem Sandwich am Schreibtisch, die Augen unbeirrt auf den Bildschirm des Computers geheftet. Ein Lunch war »etwas für Weicheier«, wie Amis mit einer Redewendung erklärte, die er vermutlich aus New York importiert hatte. Und jetzt redete er von einem richtigen Mittagessen mit Messer und Gabel - einem Weicheier-Lunch - in einem richtigen Restaurant. Sonderbar. Max stand immer noch vor einem Rätsel, als er aus dem Fahrstuhl trat und sich den Weg durch das Labyrinth der Raumteiler zu seinem eigenen Büro bahnte.
Lawtons nahm eine ganze Etage des Glas- und Betonkastens ein. Mit Ausnahme der in Mahagoni und Leder gehaltenen weitläufigen Suite, in der die beiden Brüder residierten, spiegelte die Ausstattung der Büros die Philosophie des Unternehmens wider: kein Schnickschnack, keine ästhetischen Finessen. Man befand sich schließlich in einer Fabrik, in der Geld am Fließband produziert wurde und Zucht und Ordnung herrschten. Die Lawtons hatten die Gewohnheit, ihre Klientel auf einen Rundgang durch den so genannten Maschinenraum mitzunehmen, um einen Blick auf die Belegschaft bei der Arbeit zu werfen. »Da sind sie, vierzig der hellsten Köpfe in der City. Und sie denken ausnahmslos über die Lösung Ihres Problems nach.«
Da ihm der Anruf offenbar nicht ausreichend erschienen war, hatte Amis noch eins draufgesattelt und Max per E-Mail ermahnt, nicht zu spät zum Lunch zu kommen. Max löste den Blick vom Bildschirm und sah zu dem von Glaswänden umgebenen Eckbüro hinüber, wo man Amis normalerweise hin und her marschieren sah, den Telefonhörer ans Ohr geklemmt, aber heute Morgen war der gläserne Käfig leer. Der Vogel war offenbar ausgeflogen, zum Frühstück mit einem Kunden, dem er Honig ums Maul zu schmieren gedachte; oder er nahm Unterricht, um seine Redegewandtheit zu verbessern.
Max hängte seine Jacke auf und machte sich ans Werk, ging ein allerletztes Mal die Zahlen für TransAx und Richardson Bell durch, die beiden Unternehmen, deren geheime, magische Kräfte er einem der größten Lawton-Kunden verhökern wollte. Wenn das Geschäft über die Bühne ging, konnte er mit einem Bonus rechnen, der nach seinem Kalkül die Jahresbezüge eines Premierministers beträchtlich überstieg. Er prüfte die Zahlen doppelt und dreifach, und jedes Mal kam er unter dem Strich zu den richtigen Ergebnissen. Nun war er bereit, den Brüdern das gesamte Konzept zu präsentieren. Sie mussten nur noch grünes Licht geben, und schon wäre er um eine sechsstellige Summe reicher. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, reckte sich und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz nach zwölf, und ihm fiel siedend heiß ein, dass er keine Ahnung hatte, wohin er zum Lunch zitiert worden war.
Er eilte durch den Gang zum Glaskäfig hinüber, wo Tracy, eine energische und gut aufgepolsterte junge Frau, auf ihrem Posten war und Wache schob. Sie war unlängst von Amis' Sekretärin zu seiner persönlichen Assistentin befördert worden (ein Schritt nach oben auf der Karriereleiter und, wie man im Büro munkelte, eine unmittelbare Folge des verruchten Wochenendes, das sie mit Amis in Paris verbracht hatte). Bedauerlicherweise hatte der Aufstieg ihrem Charakter geschadet: Sie war hochnäsig und selbstüberheblich geworden.
Max hockte sich auf die Kante ihres Schreibtisches und deutete mit einem Kopfnicken auf das verwaiste Büro. »Steht die Verabredung zum Lunch noch, oder ist er damit beschäftigt, die Börse aufzumischen?«
Tracy machte ein Gesicht, als würde sie ihm gleich ein saftiges Strafmandat wegen Parken im Halteverbot verpassen. »Mr. Amis erwartet Sie in The Leadenhall Cellars. Punkt halb eins. Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht zu spät kommen.«
Max runzelte die Stirn. Das Cellars, ehemals eine Lagerhalle des alten Marktes von Leadenhall, war geadelt und in eine edle Wine Bar umgewandelt worden, wo sich die jung-dynamischen Finanzhaie der City während der Mittagspause
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