Ein guter Mann: Roman (German Edition)
Ihre Folgefragen schaue ich mir an.«
Müller trabte in sein Büro zurück, schlüpfte in seine leichte Jacke und verließ das Amt.
Er war kurz nach elf in der Klinik und fand seine Mutter neben dem Bett seines Vaters, wie sie ihm aus der Tageszeitung Meldungen vorlas. Sie sah ihren Sohn an, und eine leichte Verlegenheitsröte stieg in ihre Wangen.
»Eine Schwester meinte, er könnte das vielleicht hören.«
»Ja«, meinte Müller und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe ihm auch etwas erzählt, vielleicht kriegt er es wirklich mit.«
Das Gesicht des Vaters war bleich bis grau, und das rechte Augenlid flatterte. Wieder tropfte irgendeine Flüssigkeit in seine Adern.
Müller drückte seine Hand und sagte: »Ich bin auch wieder hier, Papa. Wir müssen nur kurz auf die Bank.«
Dann gingen sie.
»Hat du deinen Pass bei dir?«
»Ja. Ich bin so hilflos, weißt du.«
»Ja, natürlich. Das bin ich auch.«
Die Erledigung der Bankgeschichte dauerte nur zwanzig Minuten, weil der Filialleiter Müllers Mutter kannte und erklärte, er habe seine Tochter in einer Klasse bei dem »Herrn Schuldirektor« gehabt, und der sei einer der besten Lehrer gewesen, wie seine Tochter ihm immer wieder über die Jahre versichert habe.
Dann standen sie draußen in der Sonne und kamen sich verloren vor. Sie wandten sich einander zu und waren verlegen.
Müller sagte: »Er wird es schaffen, weißt du.«
»Dann bist du optimistischer als ich. Wie wäre es mit einem Kaffee bei Grüns?«
»Gut«, sagte er. »Die Zeit habe ich noch.«
Ein Kaffee bei Grüns, das war ein Schlüsselwort seiner Jugend. Alle Welt nahm dort einen Kaffee und fühlte sich offensichtlich in der angestaubten Konditorei wohl. Er erinnerte sich, dass er sogar seine erste große Liebe dorthin zu einem Eis eingeladen hatte und dass er mit ihr eine geschlagene Stunde lang an einem kleinen, runden Tisch auf hohen, unbequemen Stühlen gesessen hatte – vollkommen wortlos, vollkommen hilflos. Dann hatte die erste große Liebe verächtlich gemeint, es gebe bessere Orte, und war verschwunden.
Grüns war für ihn immer noch eine seltsam anmutende Gastronomie im Stil der späten Sechziger, und vor allem ein Wald aus grünen Topfpflanzen, die aus irgendeinem Grund niemals einzugehen schienen, obwohl der Gastraum reichlich düster war. Er hatte es verächtlich Grüns Regenwald genannt, als er unbedingt sein Elternhaus verlassen wollte, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen.
Maja, die erste Liebe, hatte unendlich langes, dunkelbraunes Haar und war der felsenfesten Überzeugung, auf sie warte ein Märchenprinz. Einmal hatte sie ihm erlaubt, eine Hand auf ihren Busen zu legen, nur um dann zusammenzuzucken und die Augen tellergroß aufzureißen wegen der Ungeheuerlichkeit dieses Vorfalls.
»Ich dachte eben an Maja«, erklärte er seiner Mutter auf dem Weg zu Grüns.
»Das arme Ding«, sagte sie schnell. »Sie hatte mit achtzehn ihr erstes Baby, aber keinen Mann. Und mit zweiundzwanzig hatte sie drei Kinder und noch immer keinen Mann. So kann es gehen. Ihre arme Mutter ist ganz neurotisch gestorben.« Dann kam die Frage, die er eigentlich seit einer Stunde erwartete. »Sag mal, mein Lieber, wie geht es eigentlich deiner Ehe?«
Weil er über die Antwort schon lange nachgedacht hatte, sagte er knapp: »Es steht nicht gut. Mein Beruf ist im Grunde nicht ehetauglich. Wir haben keinen Zoff, falls du das meinst. Aber wir leben irgendwie nebeneinander her. Sie in der Bank und ich im BND. Und es gibt kaum Verbindungswege.«
»Kannst du dich denn nicht versetzen lassen?«
»Kann ich nicht«, antwortete er. »Will ich auch nicht. Als Sesselfurzer würde ich depressiv.«
Sie schwieg eine Weile, um schließlich zu fragen: »Und? Was soll jetzt werden?«
»Ich weiß es nicht, Mama, ich weiß es wirklich nicht.«
»Kannst du denn nicht zurück auf irgendeinen angenehmen Posten bei der Polizei?«
»Das geht nicht, Mama. Die Polizei ist dicht, es gibt keine offenen Stellen, ich würde also nur als Arbeitsloser enden oder bestenfalls Taxi fahren oder Pizzas an die Haustür bringen.«
»Aber du hast studiert, dich wird doch jeder nehmen.«
»Das war einmal, Mama. Und das ist verdammt lange her.« Er dachte flüchtig, dass sie jetzt vierundsiebzig Jahre alt war und in ihrem Häuschen wie in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hatte – abseits jeder neuen Realität. Und er dachte auch, dass er sie liebte und eigentlich immer geliebt hatte.
Er sagte behutsam: »Weißt du, mir
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