Ein guter Mann: Roman (German Edition)
fällt auf, dass ich über viele Dinge mit Papa nicht geredet habe. Und weil ich dringend mit ihm reden muss, sollten wir dafür sorgen, dass er am Leben bleibt.«
»Ja, das wollen wir tun«, sagte sie nach einer langen Pause. »Er ist wirklich ein guter Mann gewesen, immer sehr sachte und beschützend.« Ein kleines Lachen kam. »Und wir zwei haben auch über viele Dinge nicht geredet. Er war nie redselig, weißt du.«
»Ja. Er war immer ein sturer, alter, schweigsamer Bock. Und er hat immer gewonnen. Wenn ich eine Klassenarbeit versaute, war er still wie eine Auster. Nur einmal, als er nicht wissen konnte, dass ich ihn ansah, lächelte er. Der Kerl lächelte über eine versaute Mathematikarbeit, das muss man sich mal vorstellen! Du lieber Gott, er darf nicht sterben.«
»Wir müssen viel beten«, fügte sie sachlich hinzu.
»Aber noch lebt er«, sagte Müller in reinem Trotz, und es kam ihm selbst wie ein Gebet vor.
Sie tranken ihren Kaffee schnell, weil das Café plötzlich von einer großen Trauergemeinde besetzt wurde, die vom nahen Friedhof kam.
Seine Mutter wollte, dass er sie wieder in die Klinik fuhr, nicht in ihr Häuschen. »Da bin ich so schrecklich einsam«, sagte sie, und er widersprach ihr nicht.
Bevor sie ausstieg, nahm sie seinen Kopf in beide Hände, drehte ihn zu sich und küsste ihn leicht auf die Stirn. Sie sagte: »Ich werde dich dringend brauchen.«
»Ja«, antwortete er verwirrt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals so geküsst hätte. Er sah ihr nach, wie sie die breite Treppe hinaufstieg und dann hinter den gläsernen Türen der Klinik verschwand.
Dann fuhr er zu einem kleinen türkischen Dönerrestaurant und ließ sich einen Teller voll Geflügelfleisch mit einer Scheibe Brot geben, dazu ein Wasser. Von seinem Platz aus sah er hinaus auf die Straße und dachte daran, dass er hier schon als Oberschüler seinen Döner gekauft hatte und dass es gut war, in dieser Stadt zu leben.
Der Anruf kam um dreizehn Minuten nach eins.
Krause sagte ohne Umschweife: »Sofort kommen, wir haben ein Dringend.«
Müller konnte sich nicht daran erinnern, dass so etwas jemals vorher geschehen wäre. Er ließ das Essen stehen, winkte dem verdutzten Türken hinterm Tresen zu und rannte zu seinem Auto.
Es dauerte unendlich lange achtzehn Minuten, weil irgendein kleiner Unfall die Straße blockierte.
Er rannte aus der Tiefgarage das Treppenhaus hoch und in Krauses Büro. Krause saß rechts an seinem Schreibtisch, ihm gegenüber der Leiter Operative Sicherheit Willi Sowinski. Sie sahen ihn beide an, bewegten sich nicht, nickten nicht, wirkten wie Wachspuppen, und ihr Blick war sehr intensiv.
»Nehmen Sie den Stuhl da«, murmelte Krause. »Ich erzähle Ihnen jetzt mal, was vor rund fünfundzwanzig Minuten hier passiert ist, damit Sie verstehen, weshalb ich Sie gerufen habe. Irgendetwas Besonderes mit Ihrem Vater?«
»Nein, leider alles wie gehabt.«
»Gut. Dann ist da noch ein wenig Hoffnung. Also, ich lese mir Ihre Fragen an die Kollegen rund um Syrien durch und will mich noch einmal vergewissern, dass ich nichts übersehe. Washington sollten wir übrigens dazunehmen. Und ich studiere unser Fotoalbum Achmed. Da kommt plötzlich mein Freund Sowinski rein, deutet auf ein schönes, klares Farbfoto von Achmed und sagt: ›Den Knaben habe ich eben am Flughafen Tegel gesehen.‹« Er machte eine Pause. »Was können Sie mir dazu sagen?«
»Wie bitte?«, fragte Müller verblüfft. »Das muss ein Irrtum sein.«
»Ist aber kein Irrtum«, sagte Sowinski ohne jede besondere Betonung. »Ich kenne die Akte Achmed genau, habe sie nach Ihrem Bericht extra noch mal studiert, inklusive Fotoalbum. Ich habe jeden Treffbericht gelesen, und ich habe Achmed definitiv wiedererkannt. Ich dachte, mich laust der Affe. Es war exakt zwölf Uhr siebzehn. Wir haben jetzt ein Problem, und zwar ein ziemlich großes.«
»Die Kameras«, sagte Müller sofort. »Die Kameras auf dem Flughafen zeichnen doch auf …«
»Die Filme sind angefordert«, unterbrach ihn Sowinski und setzte nach: »Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Ich nehme zunächst an, dass es stimmt. Aber dann tauchen Fragen auf. Zum Beispiel die, welche Flugverbindungen er benutzte. Er musste unter diesen Umständen damit rechnen, dass er mit mir in einem Flieger sitzt. Das kann er unmöglich riskiert haben. Er hat mich noch gefragt, ob ich eine weitere Nacht bleibe, und ich habe geantwortet, dass ich es noch nicht weiß. Wo sind die
Weitere Kostenlose Bücher