Ein Hauch von Kirschblüten
dutzend Mal geträumt. Doch diesmal tat
es ungleich mehr weh, allein aufzuwachen, zu wissen, dass diese Sehnsucht nicht
gestillt wurde. Er verzehrte sich nach diesem Mann in seinem Traum – schon
ewig.
Vor zwei Jahren war er dem Irrtum
erlegen, Florian könnte dieser Mann sein. Nun hatte er ausgeträumt und die
Leere in seinem Herzen fühlte sich grauenvoll an. Wie hatte Katja letzte Nacht
gesagt: Morgen früh sieht die Welt ganz anders aus. Sie hatte sich geirrt. Der
Schmerz war noch immer da, ebenso die Sehnsucht. Sehnsucht nach der alles
verzehrenden Liebe, die sich jeder Mensch wünscht. Und die Sehnsucht nach einem
Land, in dem Jan noch nie war, das ihn aber seit Kindertagen faszinierte.
Wieso träumte er ausgerechnet
heute diesen Traum?
Jan gab nichts auf Vorahnungen,
glaubte nicht an Traumdeutung, wie es Katja tat. Auf keinen Fall durfte er ihr
erzählen, dass der Traum zurückgekehrt war. Wer weiß, was sie
hineininterpretierte? Ihren esoterischen Hokuspokus konnte Jan momentan nicht
gebrauchen.
Doch die Erinnerung an die
kirschblütenverschneiten Wege ließ ihn den ganzen Vormittag nicht mehr los.
War es Schicksal, dass er die
Assistenzarztstelle in der Universitätsklinik bekam, sein Arbeitsbeginn jedoch
erst in drei Monaten war? Drei Monate, in denen er seine innere Gelassenheit
wiederfinden, sich einen Traum erfüllen konnte.
Vielleicht ... Nein!
Der Gedanke war zu absurd. Sollte
er diesem Mann jemals in einem japanischen Garten begegnen, würde das bedeuten,
dass es eine Vorsehung gab und es keine Rolle spielte, welche Entscheidungen
man im Leben traf. Fremdbestimmung – ein grauenvoller Gedanke, keine Wahl zu
haben.
In Grübeleien versunken
schlenderte Jan durch Hamburgs Straßen. Irgendwann blieb er vor einem
Schaufenster stehen und betrachtete die Silhouette eines Mannes. Er war es
selbst, doch das gespiegelte Bild erschien ihm fremd. Der schwarze Anzug war
ungewohnt, aber das war es nicht, was ihn irritiert hatte innehalten lassen. Es
war das schmale, scharfgeschnittene Gesicht mit den großen braunen Augen, die
ihn ansahen, als erkenne er sich selbst nicht. Die Wangenknochen traten
deutlich hervor, die Nase wirkte übermäßig lang, obwohl sie es nicht war. Trotz
der vielen Schokoriegel und Unmengen Chips, die er in den letzten Monaten in
sich hineingestopft hatte, war er dünn geworden. Gewogen hatte er sich lange
nicht, aber er schätzte sein Gewicht auf höchstens siebzig Kilo. Bei einer
Größe von einem Meter sechsundachtzig eindeutig zu wenig. Wieso war ihm das
nicht längst aufgefallen?
Er hatte sich nicht gut um sich
gekümmert. Ebenso wie er seine Beziehung vernachlässigt hatte, war er auch mit
sich selbst umgegangen, immer ans Limit der Kräfte. Manchmal hatte er
nächtelang nicht mehr als zwei, drei Stunden geschlafen. Sein Körper hatte sich
für diesen Raubbau mit massivem Gewichtsverlust gerächt.
Auch sein Haar könnte mal wieder
einen Schnitt vertragen, war viel zu lang geworden. Die blondierten Strähnen,
die Florian so sexy gefunden hatte, waren fast rausgewachsen. Nun war Florian
nicht mehr da. Er brauchte sich keine Gedanken machen, was seinem Freund
gefallen könnte, denn er hatte keinen mehr.
Jan betrachtete die Spiegelung im
Fenster eingehend. Ja, er würde zum Friseur gehen und die halblange Mähne
abschneiden lassen. Dann wollte er einkaufen und am Abend für sich und Katja
was Leckeres kochen. Mal wieder ins Studio gehen, um ein paar Muskeln
aufzubauen, war sicherlich auch keine schlechte Idee. Er hatte schließlich
Zeit.
Jan stand bereits eine Weile vor
dem Schaufenster, bis er die Prospekte und Poster registrierte. Ein Reisebüro.
Augenblicklich schlug sein Herz schneller. Die Überlegungen der vergangenen
Minuten waren vergessen. Er sah bloß noch das Foto des Fuji mit den Kirschzweigen
im Vordergrund.
Er wollte dort sein, jetzt.
Doch gab er diesem Sehnen nach,
würde er seine finanziellen Reserven aufbrauchen. Und wofür? Für ein
Hirngespinst, die Illusion von übernatürlicher Liebe?
Für einen Kindheitstraum , dachte er bestimmend.
Aber es wäre töricht, in seiner
Situation das ganze Geld auszugeben. Er brauchte eine Wohnung, Möbel ...
Wenn nicht jetzt, wann dann? Jan betrat das Reisebüro. Es war
zu verlockend, der momentanen Situation zu entfliehen.
Eine halbe Stunde später hatte er
eine Buchungsbestätigung in der Tasche, haufenweise Prospektmaterial und war
1084 Euro ärmer. Anschließend ging er zur Bank, beantragte eine Visa-Card
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